Carl Michael Bellman: Dichter, Sänger, Bohemien

Carl_Michael_Bellman,_portrayed_by_Per_Krafft_1779Er ist in Deutschland (noch) so unbekannt, dass er einem fragend dreinschauenden Gegenüber gern als „eine Art schwedischer François Villon“ vorgestellt wird. In seiner nordischen Heimat wird er jedoch als der Liedermacher und Volkssänger des 18. Jahrhunderts angesehen, der bis heute unübertroffen in seiner Popularität ist: Carl Michael Bellman.

Mit seinen 82 singbaren Episteln und 65 Liedern, die in Schweden nicht „gehobene Literatur“ sind, sondern quer durch die Bevölkerung gesungen werden, hinterließ Bellman nicht nur eine Sammlung ursprünglicher Dichtung, sondern gibt auch dem Sänger und Zuhörer des 20. Jahrhunderts einen Einblick in die „Welt der allzu schweren Getränke und allzu leichten Liebschaften“, die „Welt trunkner verliebter Kleinbürger“ (wie G. Roethe in der Einführung zur ersten deutschen „Epistel“-Übersetzung schreibt).

Doch neben der starken Betonung der ursprünglichen Lebensfreude spürt man in den Werken des Rokoko-Liedermachers die Ironie gegenüber den Sitten und Gebräuchen der Oberschicht, die Parodie auf die verschiedensten Erscheinungen der Gesellschaft. Dran glauben müssen die beim Adel beliebten Tanzstunden wie die lethargischen Gefreiten, verschont wird auch nicht die Kirche.

Sein Leben

Bellman wurde am 4. Februar 1740 in Stockholm geboren. In seinem Vaterhaus verkehrt die „bessere Gesellschaft“ Stockholms, der junge Carl Michael genießt eine Mittelschichtsausbildung, lernt neben Sprachen auch das Spiel auf dem  sog. Hamburger Citrinchen des Großvaters: Das Instrument, auf dem er sich später begleitete, wenn er seine Lieder vortrug. Bellman dichtete schon in jungen Jahren. Die Motive entsprachen seiner Erziehung, sie waren zumeist pietistisch. Überragend waren diese frühen Werke nicht, der Dichter blieb unbekannt.

Ab 1759 arbeitete Bellman an der Reichsbank – ein Job, der ihm genau so wenig zusagte wie die Stellen bei der Generalzolldirektion und am Manufakturkontor, die er nach dem Tod seiner Eltern 1765 bekleidete. Politische Unruhen gingen nicht spurlos an Bellman und den Ämtern, in denen er arbeitete, vorüber: Er verlor seinen Posten, stand mittellos da – und fand den Freundeskreis, der zu ihm und seinen dichterischen Ambitionen passte. Als Dichter, Sänger, Mimiker und Regisseur lustiger Satyr- und Nymphenspiele lernte er die weinfrohe Atmosphäre der Tabernen kennen, fand er – wie sein Übersetzer F. Niedner sagt – „mitten im Strudel der Vergnügungen seine dichterische Geisteswelt, ein wildes, zechfrohes Völkchen aus Stockholms Kleinbürgertum“.

In dieser Zeit begann er, die Lieder zu seinem ersten großen Zyklus zu schreiben. „Fredmans Epistlar“, aus unserer Sicht das Hauptwerk des Künstlers, wurden zwar erst 1790 zum ersten Mal gedruckt – doch bereits zwanzig Jahre vorher existierten bereits über die Hälfte der Lieder.

Hinter dem Namen „Fredman“ verbirgt sich der Dichter selbst. Er tritt in den Episteln als „berühmter Uhrmacher aus Stockholm, ohne Uhr, Werkstatt und Geschäft“ auf.

Mit der Thronbesteigung Gustav III. im Jahre 1771 ist Bellman finanzielle Sorgen vorerst los. Der mittlerweile im Volk bekannte und beliebte Sänger, dessen Lieder nicht zuletzt durch Flugblätter weite Verbreitung gefunden hatten, erhielt eine pro-forma-Stellung als Hofsekretär der staatlichen Nummernlotterie. Das feste Gehalt kassierte der Lebenskünstler Bellman – die Arbeit delegierte er lieber, um sich Wein, Weib, Natur und Gesang zu widmen.

Dem König und der Oberschicht gefiel das, sie waren öfter bei Bellman und dessen Freunden zu sehen, sie waren froh und stolz, wenn der Künstler ihnen eine Epistel zueignete. Bellman als käuflicher Schreiberling? Das wäre nicht der wahre Bohemien! Er nimmt weiterhin das Gesellschaftsleben der höheren Klassen auf die Schippe, macht sich über das Hofzeremoniell, Konzerte und Tanzstunden lustig.

Die Sammlung der Episteln wurde vervollständigt, einige der schönsten entstanden in dieser Zeit. Zum Beispiel die wohl bekannteste mit dem Titel „Unerwarteter Abschied von Ulla Winblad, mitgeteilt auf einem sommerlichen Frühstück im Grünen“. Nicht so bekannt, aber nicht minder interessant ist die Nr. 73, „Jergen Puckel verschreibt sich dem Teufel“ – wild und ausschweifend in Melodie und Text.

1790 erscheint die erste Ausgabe der Episteln unter dem Titel „Fredmans Epistlar“, ein Jahr später folgen „Fredmans Sånger“. Beide Bücher haben seitdem zahlreiche Neuauflangen erlebt und – da sie in der Regel mit Text und Noten gedruckt wurden – neben der mündlichen Überlieferung zur Verbreitung der Stücke beigetragen.
Mit der Ermordung seines Mäzens Gustav III. (1792) versiegte für Bellman eine gut fließende Geldquelle. Sein dichterisches und musisches Schaffen verödete, sein Freundeskreis fiel auseinander. Bellman starb in seiner Geburtsstadt am 11.2.1795.

Sein Werk

Bellman_statue_Hasselbacken_1Bellman will gesungen werden. Zu allen seinen Episteln und Liedern gibt es Noten, meistens sogar schon für die Begleitung arrangiert. Bellman selbst hat seine Stücke mit der Cittra begleitet, doch konzipiert wurden sie alle für Orchesterbesetzung: Laute, Violine, Waldhorn oder Baß – das sind die Instrumente, die auch im Textzusammenhang der „Epistlar“ und „Sånger“ eine Rolle spielen und von ihm mit Mund und Stimme imitiert wurden. Bellman auch heute noch wiederzugeben, fällt also nicht schwer. Oder doch?

Der Mensch Bellman

War Carl Michael Bellman der Säufer und Wüstling, für den ihn viele halten, oder war er ein eher zurückhaltender, gar ein „normaler Bürger“? Man ist sich nicht einig. Zuckmayer: „Er war ein Trinker, er hat vielleicht öfter im Rinnstein geschlafen als in einem braven und ordentlichen Bett.“ Dagegen Bellmans erster Biograph Atterbom: „ Nur seinen intimsten Freunden gelang es, wenn sie es fein anstellten, ihn mit sich zu führen und ihn zum Trinken und Singen zu bewegen.“ Bellman selbst, der in seinen „Episteln“ und „Liedern“ als Fredman auftritt, sieht sich in der Gosse. Er beschreibt es sogar, wie in der 23. Epistel, „welche ist ein Soliloquium, da Fredman lag bei der Schenke Krypin, gegenüber dem Bankohause, sommernachts im Jahr 1768“:

Wie treue Lieb ich haß’ und verachte,
Laßt mich damit in Ruh.
Im Rinnstein lieg ich rülpsend und betrachte
Meine alten Schuh.
Schlafrock zerrissen,
Halstuch beschissen,
Hemd kohlrabenschwarz.
Haare putzwollen,
Knöchel geschwollen,
Im Gelenke knarrts.
Auf der Haut Rotz und Lauf,
Hilft mir keiner auf? –Flöte—
Hilft mir keiner auf?“

Der Dichter Fredman

Kontroversen bei der Beurteilung der Persönlichkeit des Menschen Bellman, Einigkeit bei der Bewertung seines Werkes: Unübertroffen. Dennoch weiß man hierzulande wenig von dem Schweden. Oder etwa deswegen?

Bellman ist schwer zu übersetzen. Die Strophen seiner Lieder sind metrisch kunstvoll gebaut, sein Vokabular stellt hohe Anforderungen: Skurriler Humor, profane Ausdrucksweise und nicht zuletzt die Sprache der Schweden überhaupt, die vor 200 Jahren anders war, als man sie heute spricht und lernt. Einige Texte wurden völlig neu gestaltet, als sie übertragen wurden – womit man Bellman bestimmt weniger vergewaltigt hat als bei krampfhaftem „so wörtlich wie möglich, so frei wie nötig“. An eins haben sich jedoch fast alle gehalten, die sich den Rokokobarden vorgenommen haben. Sie richten sich im Versaufbau nach dem musikalischen Satz, so dass Bellman auch deutsch singbar ist. Ein Beispiel für eine neue Version findet man in Carl Zuckmayers Nachdichtung des „Lied 41“, das wörtlich unter „Joachim, der aus Babylon“ bekannt ist.

Die Weisen zu den Bellmanschen Liedern stammen in den seltensten Fällen von ihm allein. Er lieh sich Material bei so berühmten Kollegen wie Haydn oder Mozart aus, benutzte bekannte Melodien von Chansons, Märschen und Gassenhauern seiner Zeit. Trotzdem kam immer ein typischer Bellman als Ergebnis heraus, weil die Quellen parodiert, transponiert und arrangiert wurden.

Bellman wusste, wie man Effekte erzielen konnte. Zum Beispiel die Epistel Nr. 73, in der sich der Gerichtsdiener Jergen Puckel dem Teufel verschreibt. Hier kontrastieren die erzählenden Dur-Strophen mit Jergens direkter Rede, die in Moll stehen. Hinzu kommt ein (in der Übersetzung verloren gegangenes) deutsch-holländisch-schwedisches Kauderwelsch, das diesem drastischen Lied einen zusätzlichen Reiz verleiht: „Ach ich pin ein elend sinder – min Kontrakt till ente går! Heert’s ein mahl, jak mik ferpinder noch zwey år.“

Bellmans „Episteln“ – so genannt in aufklärerisch-parodistischer Anlehnung an die Episteln des Apostel Paulus – und „Lieder“ spiegeln das zeitgenössische Stockholm mit seinen Huren und Säufern, mit seinem Kunst- und Dichtervölkchen einerseits und seinem Adel, seiner Oberschicht andererseits wider. Dazu kommen eine Unmenge fantastischer Landschaftsschilderungen aus der Umgebung der Königsstadt und szenische Ausmalungen der Kneipen mit dem in ihnen pulsierenden Leben.

Was Bellman vor zwei Jahrhunderten machte, hat noch heute seine Freunde. Des Dichters „Ein-Mann-Theater“ dramatisiert die Episteln; Parodie und Imitation erwecken Figuren, Orchesterinstrumente, Stockholms Gassen und die umliegenden Wälder zu Leben. Heutzutage besonders, wenn am „Bellman-Tag“ (dem 26. Juli) Szenen aus „Fredmans Episteln“ aufgeführt werden. Dann scharen sich wieder Musikanten und Mädchen, ausgediente Korporäle und heruntergekommene Handwerksgesellen um Fredman, den Exponenten der Genussphilosophie. Sie alle leben auf, um – mit den Worten Zuckmayers – „zu singen, zu lieben, zu träumen“. Sie saufen, „weil uns das Leben freut, nicht weil es uns leid ist. Und warum freut uns das Leben? Weil wir saufen natürlich.“ Natürlich.

[Dieser Artikel ist zuerst im April 1976 im „Folkletter“ des Folkclub Münster erschienen.]

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