Sechs Tage fasten. Ein Tagebuch

Beitrag von 1982 zum Thema Heilfasten

fastenDie Reaktionen der staunenden Umwelt waren unterschiedlich. Skeptiker im Bekanntenkreis lästerten und tönten „Das schaffst Du nie”, während optimistische Freunde Mut machten und darauf verwiesen, daß es sich bei dem Vorhaben ja um die natürlichste Sache der Welt handele. Ob so oder anders: Ohne Reaktion blieb die Ankündigung, eine Woche lang fasten zu wollen und nur von Wasser und Säften zu leben, eigentlich nie. Die in einer Zeit des unbeschwerten Schlemmens ungewohnte Art zu leben erfordert einfach eine Stellungnahme. Eine Woche lang fasteten ein knappes Dutzend Münsteraner zusammen, Teilnehmer eines Kurses, der im „Projekt Begegnung“ angeboten wurde. Nur die wenigsten waren gekommen, weil sie besonders gesundheitsbewußt waren — die meisten waren schlicht neugierig oder wollten auf einen Streich einige Pfunde loswerden. Am Ende der denkwürdigen Woche bot sich ein anderes Bild: Obschon jeder zwischen zwei und sechs Kilo verloren hatte, war dieser Aspekt für die Betroffenen plötzlich fürchterlich uninteressant. Statt dessen kreisten die Gedanken und Gespräche um Themen wie „Was werden wir in unserem Verhalten nach dem Fasten ändern?“. Eine Woche ohne feste Nahrung wirkte in der Tat noch mehr auf das Bewußtsein denn auf den Leibesumfang…

Eine Woche ohne feste Nahrung:
Kein Hunger und unglaublich fit

Ein Mittwoch im Januar. Die morgendliche Redaktionskonferenz beschließt: Ein Abendtermin für mich bei irgendwelchen Leuten, die einen Kurs planen: „Wie neugeboren durch Fasten“ oder so ähnlich.

Wird wohl so ein Häufchen von Spinnern sein, denk ich mir. Fasten! Als wenn’s das bringt — eine Woche nur Wasser schlürfen. Ein Steak mit Crème fraîche-Sauce ist mir lieber. Oder ein deutsches Schweineschnitzel. Aber Dienst ist nun mal Dienst. Was wird mich da erwarten? Wahrscheinlich eine Mischung aus Dicken und Gesundheitsaposteln.

Einen Tag später wußte ich es besser. Ein Riesenandrang war gewesen: alles nette Leute, merkwürdigerweise. Dick waren sie auch nicht.

Was die bloß wollen? fragte ich mich vor dem offiziellen Beginn. Ich sollte es erfahren: „Mal was Neues erleben“ oder „die Neugier befriedigen“ oder „mal sehen, ob ich den inneren Schweinehund überwinden kann“ lauteten die Antworten, als reihum nach der Motivation gefragt wurde. Als ich dran war im Vorstell-Ritual, hab‘ ich – glaub‘ ich wenigstens – einen Fehler gemacht, habe nämlich angekündigt, ich werde mitmachen. Was jetzt? Mir wurde ganz schwach. Worauf hatte ich mich eingelassen? Ein Gang zur Stammkneipe war jetzt unvermeidlich. Mit ein paar Pils spülte ich den Schreck erst mal hinunter.

Die Hunzas fasteten zwei Monate im Jahr —
es bekam ihnen gut

Ein Mittwoch im Februar. Man ist als Journalist ja von Natur aus neugierig. Also geh‘ ich nochmal zu diesen Fastenleuten, um zuzuhören. Erfahre viel.

Zum Beispiel höre ich die Geschichte von einem Völkchen im Zentralhimalaja mit dem merkwürdigen Namen „Hunzas“. Noch nie gehört. Naja‚ jedenfalls sollen die fernab dessen, was wir gemeinhin „Zivilisation” nennen, ehedem bis zu zwei Monate im Jahr gefastet haben. Ganz einfach deshalb, weil es nichts zu essen gab.

Offensichtlich war es ihr Schaden nicht, denn zwei Berufe gab es in dem Zehntausend-Seelen-Volk nicht: Ärzte und Polizisten.

Das sollte sich ändern, als das Gebiet der Hunzas erschlossen wurde. Da war’s aus mit dem guten Leben. Konserven und andere haltbare Lebensmittel brachten nämlich nicht nur neue Eßgewohnheiten mit sich, sondern auch einschneidende Veränderungen im gesamten Bereich des Hunza-Lebens. Ärzte wurden plötzlich sehr dringend gebraucht. Und Polizisten auch.

Sowas macht stutzig. Berichte von erfahrenen Fastern, die der Gruppe euphorisch berichten, tun ein Übriges: Das schon einmal leichtfertig gegebene Versprechen, selbst mitzufasten, wird ernsthaft wiederholt.

Mit Müsli und Rohkost wird
auf das zweite Programm umgeschaltet

Zwei Wochen später. Wer hätte das gedacht? Es ist Aschermittwoch, in zwei Tagen soll die Fastenwoche beginnen — und ich kann sie kaum erwarten. Etwas mulmig seh‘ ich dem ganzen trotz alledem entgegen: Ob das je klappen wird?

Freitag. Nun wird’s ernst. Ein „Übergangstag” soll den Wechsel vom Ernährungsprogramm I (Nahrungszufuhr von außen) zum Ernährungsprogramm II (Fasten, „Nahrung” von innen) erleichtern. Ganz schön ungewohnt: Müsli statt Mohnbrötchen, Rohkostsalat statt Reibeplätzchen, Wasser statt Wein. Aber merkwürdig! Es geht. Und es schmeckt. Der Gang auf die Waage soll von nun an zum Tagesprogramm gehören: 64 Kilo – sind drei zuviel, konstatiert meine Frau. Und die muß es ja wissen.

Samstag. Wenn das nicht motivierend wirkt! Die morgendliche Pflichtübung des Wiegens macht Mut: 63 Kilo! Mut braucht man allerdings auch am ersten Tag, hab’ ich mir sagen lassen. Nach dem „Frühstück” weiß ich, wie das gemeint war: Es gab eine Tasse Tee. Ohne Zucker, versteht sich. Sonderlich statt macht das nicht…

„Gegen Hungergefühl hilft nur eins: Den Darm entleeren!“ hatte ich in der Gruppe gelernt. Ein Spezialsalz hilft nach, und zwar gründlich. Die Wasserspülung der Toilette wird an diesem Vormittag einem dreistündigen Dauertest unterzogen.

Die Roßkur ist allerdings in jeder Hinsicht erfolgreich. Sogar den ersten Härtetest überstehe ich: Besuch am späten Vormittag, der die rhetorisch gemeinte Frage nach Sherry und Nüssen ernst nimmt und die angebotenen Sachen genüßlich verzehrt. Ein Glas stilles Wasser rettet mich über das Ärgste…

…und außerdem gibt es ja bald „Mittagessen“: Einen Viertelliter warme Brühe. Das reinste Wasser, ohne Salz, selbstverständlich. Aber wenn’s nichts anderes gibt‚ schmeckt sogar Gemüsewasser. Aufkommender Hunger ist wie weggeblasen. Am Nachmittag trifft sich die Gruppe zum Fastentee. Erster Erfahrungsaustausch: Alles okay, wenn wir mal davon absehen, daß die Fahrradunterführung an der Promenade in Höhe vom Mauritztor erhebliche Mühen bereitet. Aber ein bißchen schlapp sein ist ja ganz lustig…

Das „Abendessen“ besteht aus einem Glas Möhrensaft. „Jeden Schluck gut kauen” hatte ich im Kurs gelernt und drüber gelacht. Nun kaue ich Saft und bilde mir ein, ein ordentliches Menu zu speisen. Das hilft: Ich werde satt!

Sonntag. Die Waage zeigt 62,5 Kilo – was mich wundert. Ich denke an die Roßkur vom Samstagmorgen und an den Spruch einer erfahrenen Fasterin, die etwas von „ausgelatschten Därmen mit bis zu fünf Kilo Inhalt” berichtet hatte. War wohl ’ne Ente, dieser Spruch!

Egal! Ich denk nicht länger dran und schlürfe genüßlich den Morgentee. Eigenartig: Einen Tag habe ich nun schon nichts gegessen – und dennoch fühle ich mich wohl. Kein Pieken in der Magengegend, kein Kneifen, kein Schmacht auf ein Sonntagsmenü. Was ist bloß los?

Alle sprechen von der Krise —
aber sie kommt erst gar nicht

Montag. „Der Montag ist am schlimmsten” heißt eine Platte der münsterschen Delta Blues Band. Unwillkürlich summe ich die Melodie dieses Titels, als ich zum Dienst laufe. Warum eigentlich? Nur, weil in allen klugen Büchern etwas von Fastenkrisen am dritten Tag steht?

Muß wohl. Denn eigentlich merk‘ ich nichts. Auch das Gefrotzel der Kollegen läßt mich kalt. Sollen sie doch von Cordon bleu und Jägertopf schwärmen. Ich hab schließlich ‘ne Pulle Wasser mitgebracht und proste den Mampfern freundlich zu. Was sie, glaub‘ ich, ärgert.

Denn daß ausgerechnet die „fleischfressende Pflanze Stipriaan“ freiwillig auf alle kulinarischen Genüsse dieser Welt verzichtet, erscheint ihnen sehr unwahrscheinlich. Mir ehrlich gesagt auch, aber irgendwie scheint es auch ohne Leckereien zu gehen.

Die Bilanz: Vier Kilo abgespeckt
und ein Gefühl der Stärke

Dienstag. Langsam kapier‘ ich den Titel des Kurses: Wie neugeboren durch Fasten. Alles ist anders! Während die Leute ringsherum alle Naselang Hunger haben und die Pommes in sich hineinschieben, reicht mir der Griff zur Flasche. Wasser und Süppchen, Saft und Tee: Das macht unheimlich fit! Mittlerweile hat die permanent futternde Umwelt es auch aufgegeben, den eher asketisch lebenden Faster zu hänseln – hat ja doch keinen Zweck!

Mittwoch. Schlimmer darf’s nicht kommen: Bei einem Termin in der Mittagszeit sitzen sieben Leute am Tisch, essen Rindfleisch mit Meerrettichsauce, verputzen feine Gemüse, genießen eine Rotweincreme. Den Journalisten, der zum Interview gekommen war und mit dem Hinweis auf „Fastenzeit“ nur Wässerchen trinkt, verstehen sie nicht. „Das grenzt ja an Masochismus!” sagt einer – und da muß ich ihm eigentlich recht geben.

Donnerstag. Letzter Fastentag. Ich hab’ das Gefühl, als ob ich noch wochenlang weitermachen könnte. Von Hunger keine Spur, obschon sechs Fastentage keineswegs spurlos an mir vorübergegangen sind. Äußerlich nicht (aktueller Waagenstandsanzeiger: 60 Kilo), aber auch sonst hat sich was getan. Das Gefühl, eine Woche ohne feste Nahrung leben zu können und dabei in keinster Weise psychisch abzubauen, macht stark.

Der erste Hunger kam,
als wieder gegessen wurde

„Ihr werdet sehen: Der erste Apfel nach der Fastenwoche ist eine Köstlichkeit“ hatte ein erfahrener Faster vor der Kur prophezeit. „Jeder Dumme kann fasten, aber nur ein Weiser kann das Fasten richtig abbrechen“, hatte ein anderer Faster gesagt – ein bekannter übrigens: George Bernard Shaw.

Die Sache mit dem Apfel stimmt – die mit dem Weisen nur bedingt: Wer nicht unvorbereitet in eine Fastenwoche geht, kann sich sehr gut weise lesen. Oder in einer Gruppe sonstwie klug machen lassen.

Fasten brechen: Das ist dennoch die größte Prüfung innerhalb einer Fastenwoche. Wenn nämlich der erste Apfel gegessen ist und der Körper wieder das Signal zur Nahrungszufuhr von außen bekommen hat, ist die hungerlose Zeit prompt vorbei. Da hilft alles Wissen um die Fähigkeiten des eigenen Körpers nichts – sobald Programm I geschaltet ist, verlangt der Magen Arbeit.

Er sollte sie bekommen — aber er bekam sie anders als zuvor. Das Auslöffeln karger Wassersuppen hat alle Teilnehmer am Fastenkurs nachdenklich gemacht. Irgendwie kamen unabhängig voneinander alle auf den gleichen Trichter: Die vor der Fastenwoche praktizierte Ernährung ist nicht das Nonplusultra. Man muß ja nicht gleich völlig auf das Fleisch verzichten (wie Kursleiter Ralf Kremer das seit drei Jahren tut) – aber selbst eingefleischte Gourmets haben nach der Fastenerfahrung erst einmal Fleisch Fleisch sein lassen und statt dessen zu Rohkostsalaten, Gemüsesuppen und anderen nicht minder schmackhaften Dingen gegriffen…

Information

„Wie neugeboren durch Fasten“ war der- Titel eines Kurses, in dem eine Gruppe im „Projekt Begegnung“ eine Woche selbständig gefastet hat.

Das Fasten-Tagebuch auf dieser Seite gibt Eindrücke und Erfahrungen wieder – es ersetzt aber keinesfalls die Informationen, die man dringend benötigt, um ohne Führung durch einen Arzt eine Woche zu fasten.

Eine gute Hilfe für die Praxis bietet das Buch von Dr. Lützner mit dem Titel „Wie neugeboren durch Fasten“ (GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH; 4. Auflage 2013; 12,99 €)

Der Beitrag erschien ursprünglich in der Münsterschen Zeitung, Ausgabe Ostern 1982

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