Weimar zu Fuß und zu Kutsch

Die Frage ist doch einfach: Wo ist der Anfang? Wo das Ende? In einer Stadt so klein und überschaubar wie Weimar möchte man meinen, alles sei übersichtlich und nahe beinander. Doch weit gefehlt: Eine nahezu verwirrende Vielfalt an Kultur und Geschichte stürzt auf den Gast ein, der schon nach den ersten Minuten sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass außer ihm sowieso schon alle einmal da gewesen seien…

Ein zaghafter Hilferuf im Hotel Elephant – schneller und unkomplizierter als gedacht kommt überraschende Hilfe. Sie erscheint in Form einer wohlbehüteten Dame, die sich vorstellt als Kulturreferentin des Hauses. Wo außer in Weimar gibt es das im Hotel: Eine Fachfrau für Kultur?

Wir machen den Familientest und stellen Kornelia Lukoscheck (so ihr Name, den sie natürlich bei der Vorstellung nannte und der nun endlich nachgeliefert werden muss) auf eine harte Probe: Weimar in zwei Stunden für drei veritable Teenager und zwei halbwegs gebildete Erwachsene.

Konni Lukoscheck schreckt das nicht, sie beginnt mit einem Lächeln. Neben dem profunden Wissen, auf das noch zurückzukommen sein wird, ist es vor allem der Witz, der sie auszeichnet. Wer ihr unter die Hutkrempe schaut und in die Augen, der bemerkt: Diese Frau lacht oft und gerne. Die einzigen Falten, über die man als Journalist ungestraft schreiben darf, hat sie in angenehm ausgeprägter Weise: Lachfalten!

Die Kinder werden schon mal beschäftigt, indem sie ein A-4-Blatt mit Fragen nebst einem Stift in die Hand gedrückt bekommen. Keine Angst: Was da gefragt wird, wird während der kommenden zwei Stunden beim Schwatz über Weimar erwähnt werden. Man muss halt nur aufpassen…

Auf der Suche nach der wahren Antwort auf die eingangs gestellte Frage ergibt sich mit dem Treffpunkt „Elephant“ eine glückliche Fügung: Wer hier sein Domizil auf Zeit aufgeschlagen hat, ist mittendrin, hat die Antwort im wahrsten Wortsinn gefunden: Hier im Elephant anfangen!

Wer da schon alles war! Goethe, natürlich, Herder, Wagner, Liszt. Die Bauhaus-Meister zu ihrer Zeit und in der Neuzeit viele von denen, die Rang und Namen haben und auf jeden Fall für Schlagzeilen gut sind.

Kaum verlässt man das Haus, ist man auf dem Markt und erfährt von seinem offenbar nie versiegenden Quell des Wissens, was es mit dem neuen Rathaus (linkerhand) und dem älteren (rechterhand) auf sich hat. Erste Namen fallen: Lucas Cranach der Ältere und (in diesem Jahr aus gegebenem Anlass noch deutlicher als sonst) Johann Sebastian Bach. Der hatte zwar Weimar im Knatsch verlassen, aber immerhin zwei seiner zwanzig Kinder hier gezeugt. Bachs Wohnstätte direkt neben dem heutigen Elephanten, erzählt Kornelia Lukoscheck, sei abgerissen, doch ein Schild erinnert noch daran. Die Kamera klickt, die Kinder hören erste Antworten auf die Zettel-Fragen und notieren sie eifrig.

Mehr Bach (eine Büste!), und unweit davon gleich drei Schlösser! Bereits bekannte Begriffe verdichten sich mosaikgleich zu einem Bild: Der Ginkgo-Baum am Haus der Charlotte von Stein – das reizt! Goethe war bekanntlich von beiden angetan, und die Kulturreferentin sozusagen von allen dreien: Der Frau von Stein, dem Ginkgoblatt und dem goetheschen Gedicht, das sie gleich auszugsweise rezitiert.

Goethe unter freiem Himmel hat was, und beim nachfolgenden Spaziergang durch den wunderschönen Park an der Ilm ergibt sich Gelegenheit, die eine oder andere Frage zu stellen.

Beispielsweise die, ob es dieser Frau in die Wiege gelegt ward, Kulturreferentin in einem der berühmtesten Hotels Deutschlands zu werden? Sie lacht ihr erfrischendes Lachen und erzählt: Geboren in Freyburg / Unstrut, aufgewachsen in Schulpforta, Studium Deutsch und Französisch in Leipzig. Dann („zu meiner großen Freude“) zum Schuldienst in Weimar beordert. Zum Schluss ihrer Lehrerkarriere war sie Direktorin – und unzufrieden: So viel Verwaltung! So wenig Pädagogik!

Aber diesen Teil des Beybringens hat sie sich ja auf anderem Weg gesichert: Als Stadtführerin in Weimar. Erste Schritte dazu unternahm sie bereits im real existierenden Sozialismus der DDR, nicht ohne Anfangsschwierigkeiten, weil jedes Museum und jede Gedenkstätte ihre eigene Eignungsprüfung (auch wenn das nicht immer so hieß) hatte.

Die Liebe zur Stadt und den Menschen, die in ihr wohnen und wohnten, merkt man der belesenen Frau eigentlich in jedem ihrer Beiträge an. Denn bummelnd nähern wir uns Goethes Gartenhaus, zu dem es ja viel zu erzählen gibt (auch und gerade jetzt, wo es wieder einzigartig im Park an der Ilm steht und nicht reale wie virtuelle Doubletten fürchten muss).

Weiter durch den Park, kurz verweilt bei Shakespeare (Wie, war der auch in Weimar? Nein, aber das Denkmal steht dennoch da und hat eine Geschichte), dann die Dichter kurz verlassend und hin zur Musik sowie dem Bauhaus-Museum. Wie schön, dass Weimar so fußläufig klein ist! Wie merkwürdig, dass alle diese bedeutenden Menschen ausgerechnet hier aus dem Vollen schöpfen wollten! Was ist so verlockend an der Provinz? Da gibt es viele Mutmaßungen, von denen eine sicher etwas hat: Anknüpfen an das, was war – auch wenn der eigene Geist ganz anderer Natur ist und sich sogar dran reibt.

Die nächste Station mit größerem Erklärungsbedarf ist erreicht: Goethes Wohnhaus am Frauenplan. Hier fällt nun auch zum ersten (aber nicht zum letzten) Male der Name Schiller, und der eingangs an die Kids verteilte Zettel füllt sich, weil gesprächsweise annähernd alle Antworten gegeben sind.

Vorbei an Schillers Wohnhaus-Museum, dem Theater, dem Bauhaus: wenig Schritte, aber es gibt viel zu hören und zu behalten!

Das Ende des zweistündigen Spaziergangs ist wie der Anfang am „Elephanten“. Was sich schon am Anfang als günstig erwies, ist jetzt eine Wonne: Die Terrasse im Garten hat geöffnet – und wo ließe es sich bei einem erfrischenden Glas Champagner der Spaziergang besser auswerten als hier?

Man möchte es ja nicht meinen, aber nach zweistündigem Stadtrundgang, Museumsbesuch und abendlichem Kneipenbummel freuen sich die Füße auf alternative Fortbewegungsmöglichkeit. Da kommen Volontär und Elbrus wie gerufen! Das sind die Namen zweier Pferde, und zwar just der beiden, die hinter sich eine Kutsche ziehen. Die Kutsche kann eine ungarische Wagonette sein oder ein Linzer, oder ein Schiffslandauer oder ein Modell Victoria – es gab ja auch vor Zeiten schon mehr als eine Möglichkeit des mehr oder minder bequemen Reisens.

Auf dem Kutschbock: Gunter Grobe. Das ist ein Mann, den man, so man das Glück hat, in so einer Kutsche zu sitzen, zuerst für einen veritablen Schauspieler hält: Sonore Stimme, durchaus belesen und (wenn man zuvor den soeben beschriebenen Rundgang gemacht hat) eine ebenso muntere, wenn auch offensichtlich aus anderen Quellen gespiesene Zeitung alter Weimarer Nachrichten.

Der Herr Grobe (der so witzig ist, das dies der falscheste aller Namen ist: Schalk oder so sollte er heißen!) ist aber gar kein Schauspieler, sondern zweierlei: Erstens ist er gelernter, ja sogar studierter Gastronom.

In Leipzig hatte er das Gaststätten- und Hotelwesen studiert (das war in der DDR ein richtig anerkannter Studiengang), und fünf Jahre hatte er sogar im Elephant gearbeitet. Da er aber nicht so denken und reden wollte, wie die politische Kaste das damals gern gehabt hätte, wurde nichts aus einer Karriere in der Gastronomie. Statt dessen besann er sich auf das, was er vom Vater ererbt: Der war Landwirt und Unternehmer, und so versuchte sich Gunter Grobe schon recht früh und weit vor der Wende im Tourismus. Da kutschierte er so durch, aber 1989 wurde ja einiges anders. Kutschen, befand Grobe schon damals, gehören doch ins Stadtbild von Weimar! Ein Gedanke, der sich so schnell nicht durchsetzte – obwohl diese Art der städtischen Fortbewegung auf mittleren und größeren Strecken ja durchaus Zukunft haben könnte.

Auf der gut zweistündigen Tour lernt man einiges über das Wesen eines vierjährigen thüringischen Warmbluts aus Moritzburger Zucht im Vergleich zur Gelassenheit des 18jährigen „Volontärs“ aus Oldenburger Zucht. Weiter lernt man viele Weimarer kennen (denn es scheint keinen zu geben, den der Kutscher nicht hoch vom Bock grüßt und freundliche Worte hinterherruft). Und letztlich erfährt man sich die Stadt auf alte neue Weise – und so wunderbar moderiert, als ob‘s der Kutscher des Geheimen Rathes persönlich sei, der es einem verrät.

Ulrich van Stipriaan

Veröffentlicht in: trialog 3/2000
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