Der ultimative Besucher-Spaziergang

Semperoper

Es soll sie ja immer noch geben: Leute, die noch nie in Dresden waren. Die allenfalls diese tolle Brauerei aus der Werbung kennen und sich fragen, wo in derart traumhafter Umgebung denn Hopfen und Malz die innige Verbindung zur Bierwerdung eingehen? Die Auflösung erfolgt in solchen Fällen oft erst dann, wenn in Vorbereitung auf den ersten Besuch die vermeintliche Brauerei im Prospekt mit „Semperoper“ bezeichnet wird, was zu spürbarer Erleichterung und einem seufzenden „Hab‘ ich mir doch gleich gedacht“ führt: Die Welt ist wieder in Ordnung – Opern sehen so aus und Brauereien auch manchmal schön, aber eben anders.

Dennoch kann man den Radebergern eigentlich gar nicht dankbar genug sein, dass sie dieses starke Stück Dresden so eindrucksvoll inszeniert in die Welt hinaus schicken. So hat man denn wenigstens einen Anknüpfungspunkt, wenn Onkel Günther mit Tante Elisabeth sich aufraffen, den hier schon seit zehn Jahren lebenden Neffen zu besuchen.

Wobei das mit dem „Anknüpfungspunkt“ nicht so wörtlich zu nehmen ist, denn ob man umweltbewusst mit der Bahn als einer von täglich rund 30.000 Ein-, Aus- und Umsteigern am Postplatz ankommt oder sich mit dem Auto ins Zentrum traut und einen der knapp 500 Parkplätze unterm Taschenbergpalais oder unter dem Haus am Zwinger erwischt: Unser Startpunkt ins historische Zentrum der Stadt beginnt mit einem Stück Neues Dresden.

Das „Haus am Zwinger“ bietet ja nicht nur den Vorteil, den Bummel angesichts bevorstehender Anstrengungen mit einer Rast zu beginnen (ein Café, drei Gaststätten für die vorzüglichste Befriedigung unterschiedlichster geschmacklicher Bedürfnisse), sondern ist obendrein auch mit seiner gewagten architektonischen Form ein Ansatzpunkt, über die Stadt ins Reden zu kommen. Da sitzen wir nun also und sind prompt unterschiedlicher Meinung. Elisabeth hätte das gesamte Zentrum am liebsten so wie viele Dresdner: barock. Doch Onkel Günther, offenbar doch belesener und besser vorbereitet als wir dachten, wirft völlig korrekt ein, dass es ohne ein gewisses Quäntchen an Querdenken und Mut gar nicht geht, und selbst der Zwinger sei ja seinerzeit für Dresden auch was Neues und das barocke Bauen für viele der damals gerade gut 20.000 Dresdner sehr verwegen gewesen…

Nun grenzt also dieses Haus am Zwinger den barocken Kern der Stadt mit dem direkten Nachbarn Taschenbergpalais und dem namengebenden Zwinger gegenüber zur Nachkriegsstadt ab – und es hätte wahrlich schlimmer werden können, muss sogar unsere skeptische Lisbeth zugeben. Kann natürlich sein, dass sie der Bummel entlang des Hauses die Frage von Form und Inhalt zu Gunsten des Inhalts hat verschieben lassen: Bei den Modegeschäften beispielsweise musste sie erst mal rein und feststellen, dass ihr das Angebot sehr gut gefällt –und in den erzgebirgisch geprägten Geschenke-Shops war dann auch gleich genug Mitbringsel-Material für die daheim Gebliebenen gefunden!

Wir waren dann sogar noch mehr drin: Klaus-Peter Junge, der das nicht leichte Geschäft der Vermietung des Hauses übernommen hat, brachte uns hoch in ein noch nicht vergebenes Büro (insgesamt hat das Haus einen Vermietungsstand von 60 Prozent, was Junge als „ganz ordentlich und wie erwartet“ bezeichnet). Tiefe Einblicke in den Zwinger gibt es da, und Onkel Günther scherzte, dass er sofort einziehen würde, wenn seine Firma hier und nicht im Westfälischen wäre. Auf eine Niederlassung in Dresden wollte er sich freilich auf die Schnelle nicht einlassen, und so zogen wir weiter: natürlich in den Zwinger.

Dieses Meisterwerk des Barock – eine „Faschingslaune der Architektur“ nannte es mal einer, der aber mit dem Begriff Fasching nur Gutes verband – steckt so voller Kunst und Sehenswertem innen wie außen, dass der eine gemütliche Spaziergang durch Glockenspielpavillon, Kronentor und Nymphenbad nur ein Appetitholer ist. Der Zwinger ist, wenn man die Zeit hat und sich mit dem einen oder anderen schlauen Buch oder Stadtführer bewaffnet, einen halben Tag und mehr wert. Und Filmmaterial sollte auch nicht zu knapp bemessen werden…

Eins konnten wir uns – man muss den Verwandten ja zeigen, was diese Stadt zu bieten hat – nicht verkneifen: den Quicki durch die Alten Meister. Sixtinische Madonna (die ja neuerdings weltweit nur auf die beiden kleinen Süßen am unteren Ende des Bildes reduziert wird), ein wenig Rubens und ganz viel Canaletto, der seit 1747 Hofmaler war und monatlich ein Bild abliefern musste. Er ließ sich nicht lumpen und wählte trotz des Stresses ein großzügiges Format. Canalettos Stadtansichten sind erstens in Ermangelung der damals noch nicht erfundenen Fotografie ein nettes Abbild der Zeit und zweitens neben der Detailliebe auch noch humorvoll arrangiertes Stilleben. Wer Dresden – das ja nicht umsonst Elbflorenz genannt wird und klimatisch (sehr zur Freude der Winzer in der Gegend) durchaus nennenswerte Durchschnittstemperaturen zu bieten hat – wer also Dresden bei Regen erwischt, kann sich bei Canaletto die Sonne zumindest in den Sinn holen.

Dem Glücklichen aber scheint die Sonne vom Himmel: also raus aus dem Museum!

Und plötzlich steht sie vor dir: Die Sächsische Staatsoper Dresden, kurz „Semperoper“. Am Theaterplatz mit dem Reiterdenkmal von König Johann (der unter seinem Pseudonym Philaletes Dantes „Göttliche Komödie“ nach Meinung von Fachleuten hervorragend übersetzt hat) kumuliert das alte Dresden: Die Semperoper (seine zweite am Platz, Nummer eins brannte 1869 ab) wurde wie fast alles im Februar 1945 ein Opfer der Bomben. Wiedereröffnet exakt 40 Jahre nach der Katastrophe am 13. Februar 1985, ist sie jetzt nicht zuletzt durch den Bierwerbespot ein Muss für alle Touristen – wobei denen, die zuhause nie in die Oper gehen, die musikfreien Führungen tagsüber empfohlen seien, weil die sehenswerte Architektur die gleiche ist wie während der Aufführung…

Zur Elbe hin muss ich Onkel und Tante natürlich das „Italienische Dörfchen“ zeigen. Erstens weil es sowieso Mittag ist und das Angebot an möglichen Ess-Orten der Gegend ja mal gesichtet werden muss und zweitens, weil man angesichts des Namens auch über Themen reden kann, die die Welt bewegen. In der augusteischen Zeit gab es da, wo jetzt die Gaststätte steht, nämlich die Baubuden der Steinmetze aus Italien, die die Hofkirche bauten. Architekt Gaëtano Chiaveri und seine Bauleiter kamen ebenfalls aus Italien: Des starken August Sohn – Friedrich AugustII. – hatte sie gerufen, um Sachsens größte Kirche (und Dresdens letzten Barockbau) zu errichten. Die Dresdner, so scheint‘s, hatten mit den Zugereisten allerdings offensichtlich Probleme: Nach zehn Jahren Bautätigkeit reiste Chiaveri mit dem Gefühl ungenügender Unterstützung ab.

Seine jetzige Form erhielt das Italienische Dörfchen übrigens erst Anfang des 20. Jahrhunderts – ebenfalls von einem Nicht-Dresdner, nämlich vom Bamberger Hans Erlwein, der auch an anderen Stellen der Stadt beachtliche Spuren hinterlassen hat. Wo früher die Steinmetze wohnten, gibt‘s heute Gastronomie für alle – auch italienisch geprägte: eine späte Verneigung vor den Namensgebern des Ensembles?

Nett wär‘s ja und eine richtige Geste allemal. Zumal es gerade ein Wesenszug von in Dresden Geborenen zu sein scheint, dass eben nur gebürtige Dresdner das richtige Gefühl für die Stadt entwickeln können – was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie viele Zugereiste das Stadtbild wesentlich geprägt haben und einen klanghaften Namen hinterließen: Der Zwinger von Pöppelmann (wie Onkel und Tante: aus Westfalen!) und Permoser (ein Oberbayer, der zuvor in Italien gearbeitet hatte), die Oper von Semper (ein Hamburger), die Kirche von Chiaveri. Am Schloss haben naturgemäß über die Jahre so viele rumgemährt, dass es sich verbietet, nur einen Namen zu nennen. Das Taschenbergpalais, das unser nächstes Ziel ist, ist das Werk der Westfalen Karcher und Pöppelmann, und das neue Haus am Zwinger vom Wiener Architekten Heinz Tesar.

Die Geschichte des Taschenbergpalais erzählt sich immer besonders gut, und weil sie etwas länger währt, wollen Onkel und Tante mal wieder eine Auszeit nehmen. Gelegenheit dazu gibt‘s reichlich: Vom schnellen Espresso in der Kaffeebar über den vornehmen Kaffee oder Fünf-Uhr-Tee im Vestibül des Hotels mit Blick auf das Pöppelmannsche Treppenwunder (eine doppelläufige Anlage, die den Bombenangriff im Februar 1945 halbwegs überstand und beim 250 Millionen Mark teuren Wiederaufbau zum Hotel originalgetreu einbezogen wurde), vom urig-deftigen Essen nach bayerischer Art im Paulaner‘s oder im Sophienkeller (mit echten alten Stadtmauern und Gewölben aus dem 13. Jahrhundert sowie nachgebautem „Zeithainer Lager“ aus augusteischen Zeiten) bis zum hochgelobten Restaurant Intermezzo, das zum Kempinski Hotel gehört, ist für nahezu jeden Geschmacksnerv (und unterschiedlich voluminöse Geldbeutel) etwas dabei. Theoretisch könnte man sich gut zwei Tage ohne Wiederholungsbesuch mehr als grundernähren – und hätte für den Absacker nächtens sogar noch die zum Hotel gehörende Allegro Bar mit ihren fast 300 Cocktails zur Verfügung.

Wir haben uns fürs Intermezzo entschieden, weil das erstens ganz passend Zwischenspiel heißt und zweitens in den einschlägigen Gastro-Führern gehörig gelobt wird. Zwischen Bestellung und Servieren ist Zeit, nochmal über August den Starken nachzudenken. Er hielt sich, wie seinerzeit nicht unüblich, Mätressen. Anders als heutzutage die heimlichen Geliebten waren das durchaus akzeptierte Nebenfrauen. Die Cosel, die August einem seiner Minister ausgespannt hatte, ertrotzte sich sogar einen richtigen Ehevertrag. Der half ihr allerdings, als die Liebe des potenten Potentaten vorbei und die Interessenslage des Königs von Polen sich verändert hatte, auch nicht mehr – und so landete die Gräfin Cosel auf Burg Stolpen, knapp 30 Kilometer Richtung Elbsandsteingebirge von der Residenz entfernt, im Gefängnis. Das war, auch wenn es sich heute wunderbar restauriert und publikumsnah gestaltet präsentiert, kein Zuckerschlecken!

Die besten Tage ihres Lebens aber verbrachte Gräfin Cosel im Taschenbergpalais – dem Palais, das August ihr zu Ehren hat bauen lassen. Die Verbindung, die es heute zwischen Schloss und Palais gibt, wurde übrigens wie der gesamte Ostflügel erst später errichtet, so dass die nette Geschichte vieler Stadtführer, dass August nächtens über diesen Gang zu seiner Geliebten schlich, leider nur als gut erfunden eingestuft werden muss.

Wirklich lustig allerdings ist, dass der Frauenheld den Bau doppelt bezahlt hat: Einmal beim eigentlichen Bauen, dann später nochmal, als er die Cosel rausgeworfen hatte und das Palais für sich wieder haben wollte (soviel gab der Vertrag dann doch her): Rückkaufen hat also auch Tradition hierzulande.

Auch nach dem unfreiwilligen Auszug der Cosel erlebte das Taschenbergpalais gute Zeiten, mit An- und Umbauten. So entstand in Dresdens erstem barocken Palais einige Jahre später eine Hauskapelle, die als Höhepunkt des Rokoko in Dresden gefeiert wird.

Beim Wiederaufbau des Palais (1992–1994) hat man die Kapelle in den Ausmaßen erhalten, aber nicht dem Überschwang des Rokoko nachempfunden: Schlicht gestaltet steht sie als Teil des Hotels für Tagungen zur Verfügung, aber dann und wann auch der hehren Kunst – mit Ausstellungen einheimischer Künstler einerseits und Verkaufsausstellungen von Weltkunst andererseits. Der Geist des Hauses scheint überhaupt Kunst auszustrahlen: Besagte Galerie ist das ganze Jahr – also auch, wenn es nicht gerade zwischen Ostern und Pfingsten ist – gleich mit zwei Shops präsent, und der Juwelier oder das Porzellangeschäft sind ja auch eher dem Schöngeistigen zugewandt. Im Juweliergeschäft strahlt die Kunst dann auch wieder zurück: Georg Leicht hatte im Grünen Gewölbe den „Heiligen Georg zu Pferde“ als Original entdeckt und das Motiv in den heimischen Werkstätten nachgestalten lassen. Vom Verkaufserlös fließt ein beachtlicher Teil ans Grüne Gewölbe, was im Zeitalter ohne wirkliche Fürsten durchaus als nettes Mäzenatentum dankbar entgegen genommen wird.

Das Taschenbergpalais verlassend möchten Onkel Günther und Tante Elisabeth noch mal schnell an die Elbe. Das Schloss rechts, Schinkelwache, Semperoper und Italienisches Dörfchen links liegen lassend gehen wir die Stufen zum Flussufer hinab – und Günther sieht Marion! Das ist nicht etwa eine alte Freundin, sondern der Theaterkahn von Friedrich Wilhelm Junge. Eigentlich wollten wir dann ganz spontan in die Abendvorstellung – aber die war ausverkauft (also nächstes Mal besser Karten bestellen!). Aber wo wir schon mal da waren: Auch auf dem Kahn gibt‘s ein Restaurant: Kahnaletto, ein schönes Wortspiel. Und da die Küche stimmt, waren wir versöhnt mit dem Abend ohne Theater. Es war dann sogar noch Platz für den abendlichen Absacker – ganz lustig: An der Mauer (Elisabeth meinte: in der Mauer!) zur Brühlschen Terrasse: Der Radeberger Spezialausschank machte den Tag komplett, den wir mit dem Opern-Brauerei-Irrrtum begonnen hatten. Die Auflösung gefiel uns!

PS: Das Auto haben wir in der Garage stehen lassen und ein Taxi genommen, war auch besser so nach den vielen Zwischenstopps…

Ulrich van Stipriaan

Veröffentlicht in: Augusto 2001

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