Ostsee für die Seele

Natur pur und die Entdeckung der Langsamkeit auf Hiddensee, Rügen und Usedom

madame 2002 hiddenseeDie Bäume links und rechts der schmalen Straße neigen sich zum Spalier. Hin und wieder schiebt der Wind die leichteren Zweige auseinander, die Sonne blitzelt hindurch: „Auf Rügen nur mit Licht“ hatte das Schild kurz nach Befahren der Insel geraten – nun wird klar, warum: Der stete Wechsel von Schatten und gleißender Sonne ist für Großstadtaugen ungewohnt. Und tatsächlich ist die Zahl der Unfälle seit Einführung der Aktion Licht auf Rügen um die Hälfte zurück gegangen. Aber am besten, man verlässt gleich die stark befahrenen Hauptverkehrsstraßen und kreuzt – mit Licht und Lieblings-CD im Hintergrund – einfach so durchs Land.

RÜGEN
Königsstuhl und Kap Arkona

Rügen ist Deutschlands größte Insel – 974 Quadratkilometer, da passt Sylt zehn Mal rein! 56 Kilometer feinster weißer Sandstrand wären allein ein Grund, hier Badeurlaub zu machen.Ausgedehnte Buchenwälder, riesige Rapsfelder, grüne Wiesen – und natürlich immer wieder imposante Kreidefelsen: Wer hier nicht ins Schwärmen gerät, dem ist nicht zu helfen: »Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir!« flüstert Effi Briest ihrem Instetten beim Abendspaziergang entlang der Klippen angesichts der „stillen, vom Mondschein überzitterten Bucht“ ins Ohr. Der Königsstuhl ist das Romantiker-Motiv schlechthin, Caspar David Friedrich hat in der eingefangenen Stimmung nicht übertrieben. Lediglich die Form der Kreidefelsen hat sich seitdem gewaltig geändert, denn Wind und Wasser nagen gnadenlos an der Küstenlinie.

Mit dem Privat-PKW kommt man nicht zum Königsstuhl, sondern entweder mit dem Bus (Shuttle-Verkehr vom Parkplatz in Hagen) oder zu Fuß. Hier gibt es gleich drei Möglichkeiten, die alle ihren Reiz haben: Man nähert sich mit immer wieder neuen atemberaubenden Blicken auf Kreideküste und Ostsee über den Hochuferweg von Sassnitz aus, oder startet im kleinen Hafenstädtchen Lohme und wandert durch die große Stubbenkammer ebenfalls entlang der Küste zum Königsstuhl. Der Fußweg quer durchs Land mit ganz anderen Blickwinkeln beginnt auf dem Parkplatz in Hagen; man durchstreift ursprüngliches Waldgebiet, kommt vorbei an mystisch wirkenden dunklen Seen, in denen sich alte knorrige Bäume und das Uferschilf um die Wette spiegeln, und an den Resten der slawischen Herthaburg.
Natur pur auch weiter nördlich: Die Schaabe ist ein schmaler Streifen Land auf dem Weg zum Kap Arkona. Allerfeinster Sandstrand, wohin man schaut. Hier ist, wie zu DDR-Zeiten fast überall auf der Insel und den anderen Ostsee-Stränden, nahtloses Bräunen erlaubt. Dass es nicht mehr überall geht und FKK nur noch an besonders gekennzeichneten Stellen möglich ist, hat Anfang der 90er Jahre zu regelrechten Strandkriegen geführt. Mittlerweile haben sich alte Dauergäste und die neu hinzugekommenen Sonnenanbeter(innen) allerdings weitgehend arrangiert…
Kap Arkona selbst ist der nördlichste Punkt Rügens und wie der Königsstuhl nur per Pedes zu erreichen. Im denkmalgeschützen Dorf Vitt, gut zwei Kilometer vor dem Kap mit seinen beiden pittoresken Leuchttürmen, sind die Häuser reetgedeckt. Vom Hafen fuhren früher die Fischer zum Heringsfang – heute bringen die kleinen Boote die Touristen zum Kap.

Störtebeker in Ralswiek

Ein absolutes Muss während des Rügen-Aufenthalts ist ein Besuch der Störtebeker-Festspiele. Im romantischen Örtchen Ralswiek, immerhin Rügens älteste bekannte Siedlung und wegen seiner Lage am geschützten Jasmunder Bodden vor tausend Jahren der größte Seehandelsplatz der auf Rügen lebenden Ranen, geben Schauspieler jährlich eine neue Geschichte des sagenumwobenen Seeräubers Störtebeker: Grandioses Open Air, bei dem neben den Profis bis zu dreißig Pferde, dann und wann ein Adler und fast die ganze Dorfbevölkerung mitmachen. Der Jasmunder Bodden ist Teil der Bühne: Hier dürfen die Piraten auf eigens für die Vorstellung gebauten Schiffen realistisch räubern. Besonderes Highlight: Das Feuerwerk am sommerlichen Nachhimmel. Tagsüber und außerhalb der Festspielzeit ist Ralswiek eher beschaulich, mit nettem kleinen Hafen und Schloss im Stil der Neo-Renaissance.

Die Seebäder

Neben der Natur prägen die Städte mit der Bäderarchitektur des beginnenden 20. Jahrhunderts das Bild der Insel. Zum Beispiel Binz: Das größte Seebad Rügens entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert und entwickelte sich zum mondänen Badeort. Die 3,2 Kilometer lange Strandpromenade bringt einen Hauch des „Paseo maritimo“ von Marbella auf die Insel: Gehen, um gesehen zu werden, aber auch um selbst zu sehen – zum Beispiel die alten Villen, von denen die meisten liebevoll renoviert sind. Das Kurhaus von Binz ist seit dem vergangenen Dezember wieder die Perle des Ortes: Als 5-Sterne-Hotel bringt es einen Hauch von Glamour vergangener Tage zurück. Und während tagsüber (bei entsprechendem Wetter) die Terrasse als „Balkon von Binz“ heiß begehrt ist, lockt von Mitte Juni an abends im historischen Kurhaus-Saal das hauseigene Varieté „Boddenbarsch“ mit „Rügener Sommernachtsträumen“.

Vom Kurhaus hat man einen guten Blick auf eine Besonderheit der Ostsee-Insel-Hafenstädte: Weil die Ostsee so nett badefreundlich sanft abfällt, haben Schiffe es schwer. Also kommt man ihnen entgegen mit Seebrücken. Die reichen so weit ins Meer, dass die Schiffe die gewünschte Handbreit Wasser unterm Kiel haben. 370 Meter erstreckt sich die Binzer Seebrücke ins Meer, 330 die 1998 rekonstruierte Seebrücke von Sellin. Auf der Brücke ein Restaurant: Essen über der Ostsee könnte das Leitmotiv einer Insel-Rundreise bilden…
Gar keine Seebrücke hat Putbus, es liegt nämlich gar nicht an der Ostsee, sondern etwa zwei Kilometer vom Wasser entfernt. Dennoch wollte im vorvorigen Jahrhundert Malte von Putbus, der rührige Fürst und größte Grundbesitzer der Insel, Putbus zum Seebad machen. Das klappte aus den erwähnten nahe liegenden Gründen nicht, und so blieb es bei einem in seiner Bizarrheit dennoch sehenswerten Städtchen: Klassizistische Bauten nicht nur um den (kreisrunden) Circus, Theater im Park, wunderbare Alleen. Außerdem förderte Putbus den „Rasenden Roland“, eine trotz des Namens eher gemächlich schnaufende schmalspurige Bahn, die damals wie heute Putbus mit Binz verbindet: So gesehen liegt die Residenz eben doch an der See.

HIDDENSEE

Von oben ähnelt Hiddensee ein bisschen einem Seepferdchen, was man nur im Überflug oder bei einem Blick auf die Landkarte erkennt. Nach Hiddensee kommt man nur mit dem Schiff. Das Auto bleibt im Fährhafen Schaprode auf Rügen, denn Hiddensee ist autofreie Insel und personifizierte Langsamkeit. Hier geht man zu Fuß oder radelt. Lange dauert beides nicht, vom Wasser (Ostküste) zum Wasser (Westküste) sind es bei Vitte, der Inselhauptstadt, rund 300 Meter. Und bis zum Nordende auf den Leuchtturm braucht man eine Stunde, zu Fuß und mit Gegenwind.

Unterwegs erlebt man die Insel wie vor Jahrhunderten: Pferdefuhrwerke transportieren Menschen und Güter, vorbei an kleinen, meist flachen Häusern. Sie ducken sich vor dem scharfen Wind, und viele sind mit Reet gedeckt – was die Natur halt so hergibt in der eher kargen Landschaft.

Hotel-Neubauten sieht man hier eher selten – das Süßwasserreservoir der Insel ist beschränkt. Außerhalb der Ferienzeit ist eine Unterkunft kein Problem, aber zur Saison kann es schon mal eng werden auf Hiddensee. Das war nicht immer so, denn touristisch lag die kleine Insel lange im Windschatten des östlichen Nachbarn Rügen. Eine regelmäßige Schiffsverbindung gab es lange Zeit nicht, die ersten Besucher mussten sich vom inseleigenen Fährmann mit dem Ruderboot bis zur Fährinsel direkt vor dem Eiland schippern lassen. Dann spielte der Fährmann im Vorgriff auf die Diskos von heute so eine Art Insel-Türsteher: Er ließ die Männer die Hosen hochkrempeln und durchs Wasser waten. Und bei den Damen entschied er sich angeblich je nach Aussehen und vor allem Gewicht, ob er sie das letzte Stück Weges nach Hiddensee trug…

Derlei Abhängigkeit gibt es heute nicht mehr: Wassertaxis und mehrere Linienschiffe sind zuverlässige Zubringer. Sie steuern die drei Inseldörfer Neuendorf im Süden, Vitte in der Mitte und Kloster im Norden an. Die meisten Gäste sind Tagestouristen und kommen mit wenig Gepäck; wer länger bleibt, schnappt sich am Hafen einen der bereit stehenden Bollerwagen oder steigt in die Pferdekutsche: Die Insel hat ihren eigenen Rhythmus, der sich schnell auf die Besucher überträgt. Nicht ganz ohne Grund warnen die Hiddensee-Prospekte davor, dass diese Insel süchtig macht. Besonders anfällig für diese Sucht waren vor allem in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Künstler aller Art: Gerhart Hauptmann kam immer wieder zur Sommerszeit – sein Haus und auch sein Grab sind im Örtchen Kloster im Norden der Insel touristischer Anziehungspunkt. Gret Palucca, die 1925 in Dresden eine Schule für modernen Tanz gegründet hatte, verbrachte vom Jahre 1948 an viele Sommer auf Hiddensee und wurde dort auf dem Inselfriedhof 1993 mit 91 Jahren zur letzten Ruhe gebettet. Von ihr stammt der Satz: „Hier, auf Hiddensee, liegen die Wurzeln des Ausdruckstanzes“ – weswegen seit 1996 Dresdner Studenten die große Ausdruckstänzerin mit einer Tanzwoche auf Hiddensee ehren.

USEDOM

Die zweitgrößte Insel der Republik liegt mit Rügen im edlen Wettstreit, wer denn nun die schönste im ganzen Land sei. Klar die Nase vorne hat die östlichste Insel Deutschlands in einer Kategorie, wo man auf Anhieb jede Wette verlieren würde: Usedom ist die sonnigste Urlaubsregion Deutschlands: 1917,5 Stunden im langjährigen Jahresmittel bestätigte der Deutsche Wetterdienst der Insel!

Also auf nach Usedom, was nach der Aktivierung des Inselflughafens sogar mit dem Linien-Flugzeug ab Dortmund geht. Für Berliner ist die Insel sowieso im wahrsten Sinne des Wortes „nahe liegend“, weswegen sie auch häufig Berlins Badewanne genannt wird.
Auf Usedom können wir unbekümmert die Seebrücken-Sammlung erweitern; wundervolle Exemplare finden sich in den drei Kaiserbädern Ahlbeck, Heringsdorf (508 Meter lang und mit sehr gutem Restaurant am Ende!) und Bansin. Der Kaiser selbst gab sich zwar nur in Heringsdorf die Ehre, aber die gemeinsame Strandpromenade und der kilometerlange feinsandige Strand verbinden. Hier kann man die Seele baumeln lassen: Baden, bräunen, bummeln…

Die Häuser in wilhelminischer Seebäderarchitektur sind schön wie vor hundert Jahren – und auch die Villen, die aus welchen Gründen auch immer noch nicht renoviert sind, strahlen morbiden Charme aus. Wer so etwas besonders mag, der sollte sich Swinemünde nicht entgehen lassen: Es ist die größte Stadt der Insel, heißt heute Swinoujscie und liegt jenseits der Grenze in Polen. Da das Bäderviertel im Krieg nicht zerstört wurde, gibt es noch sehr viele der Gründerzeitvillen im Fast-Original-Zustand.

Peenemünde am nordwestlichen Ende von Usedom ist ein über 700 Jahre alter Ort, der 1936 zum Sperrgebiet wurde: Offiziell als Zentrum für Weltraumforschung deklariert, wurden in Peenemünde militärische Waffen entwickelt. Die erste Fernrakete der Welt startete am 3. Oktober 1942. Der Bereich blieb auch nach dem Ende des Krieges Sperrgebiet, denn erst kamen sowjetische Raketenspezialisten, später ostdeutsches Militär. Seit 1991 ist die Anlage Historisch-Technisches Informationszentrum.

Eine Welt für sich ist das Usedomer „Achterwasser“. Es liegt zwischen nördlichen Teilen der Insel und dem Festland bzw. südlicheren Inselzipfeln. Mit der offenen See ist das Achterwasser durch den Peenestrom verbunden, doch als Quasi-Binnensee ruhiger als die Ostsee und noch romantischer. Das Schilfufer trägt seinen Teil dazu bei, aber vor allem die wundervollen Sonnenuntergänge. Strategisch gut liegt die Golfanlage mit einem 18-Loch Turnierplatz: Direkt am Achterwasser und in absolut himmlischer Ruhe.

Ulrich van Stipriaan

Veröffentlicht in Madame 7/2002

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