Schafft Weihnachten ab!

DCF 1.0

Weihnachten bildet einen festen Punkt im Jahresablauf der Unruhe unseres Lebens. Das Fest, das traditionell am späten Nachmittag des 24. Dezember beginnt, erlebt in der Mittags- und Nachmittagszeit des 25. seinen Höhepunkt. Es dauert dann noch bis zum 26. an, aber da weiß kaum noch einer, wie ihm weihnachtlich zumute sein soll. Brauchen wir Weihnachten wirklich? Oder sollten wir den Stressmacher Nummer eins einfach abschaffen? Die folgenden Schilderungen können doch nur zu einem Schluss führen: Schafft Weihnachten ab!

Die Vorboten dieses Festes, das früher einmal christlichen Ursprungs war, erlebt man neuerdings schon im August. Dann stellen die Kaufleute die ersten Stollen in die Läden, drapieren Pfefferkuchen drum herum und wundern sich, dass die Menschheit lieber baden geht als sich die Insignien des Winters ins Heim zu holen. Wer es dennoch tut, ist verraten und verkauft: Der Stollen stammt in der Regel aus anonymer Fabrikproduktion und wird entweder schnell trocken oder war es schon immer: Bäcker, die zum Beispiel in Dresden etwas auf sich halten, fangen erst im Herbst an zu backen, lassen das Backwerk ruhen. Zum ersten Advent kann man den ersten Stollen dann anschneiden.

Die im August beginnende Vorweihnachtszeit ist geprägt durch eine gewisse Endzeitstimmung. Die Menschheit verfällt kollektiv in die Wahnvorstellung, dass die Welt nach dem Höhepunkt der Weihnacht untergeht. Deswegen haben Buchhalter und Controller den sogenannten Kassenschluss erfunden. Bei staatlichen Organisationen rückt der jedes Jahr ein wenig mehr Richtung August, derzeit ist die „Alle-Rechnungen-müssen-bei-uns-sein-und-ob-ihr-danach-noch-arbeitet-ist-mir-doch-egal“-Linie rund um den 5. Dezember zu finden. Dem staatlichen Vorbild folgend erfinden Firmen aller Rechtsformen das Geschäftsjahr mit ähnlichen Gebräuchen.

Früher Kassenschluss und späte Feststellung, dass nach allen Unkenrufen nun doch irgendwo „noch Geld da“ sei und möglichst ausgegeben werden müsse, weil es sonst „verfalle“, führt bei weniger straff organisierten Unternehmen zu einer plötzlichen Aufragsflut, die zwar abseh-, aber nicht abwendbar ist. Der Kassenschluss ist mitnichten der Zeitpunkt zur Abgabe der Arbeit, es reicht wenn zum Fest alles wirklich fertig ist. Mit der Rechnung kann ja irgendetwas eingereicht werden, was dem gewünschten nahe kommt und der Rechnung beigelegt werden kann. Bis dann gezahlt ist, wird das richtige Produkt schon so weit sein (es darf nur keiner zwischendurch verschwinden).

Die Eiligen vom Advent haben jedoch nicht nur wegen Restgeldbeständen in Budgets so viel zu tun, denn in den letzten Tagen vor Weihnachten müssen alle Firmen, Abteilungen, Gruppierungen, Teams, Kollektive sich ganz dringend zu einer Weihnachtsfeier treffen. Diese Veranstaltungsreihe zur Förderung des Umsatzes in der Gastronomie ist immer sehr lustig und hat in der Regel zwei Höhepunkte: Der eine ist die Verlesung von Gedichten und Geschichten, die immer sehr lustig sind. Der andere ist das so genannte „Wichteln“, bei der alle inständig beten, nicht das selbst eingebrachte Geschenk im Wert von bis zu 5 Euro zu erhalten.

Nach der Weihnachtsfeier sind die Nachbesprechungen in morgendlichen Kafferunden schon deswegen nicht mehr das, was sie vorher einmal waren, weil immer wieder jemand Anlass zur Verärgerung gab. Das nun aufkommende Problem ist: Wie reden wir drüber, so dass er (sie) es nicht mitbekommt? Die Lösung dieser stressigen Frage verkürzt im Dezember zwar manchen Arbeitstag auf angenehmste Weise, führt aber auch nicht gerade zur ruhigen und besinnlichen Vorweihnachtszeit.

Nun könnte ja nach Feierabend oder an den freien Wochenenden vor dem Weihnachtsfest stimmungsvolle adventliche Ruhe einkehren. Tut es aber nicht. Wir müssen nämlich einkaufen, und zwar Geschenke für Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde und Kollegen. Nur: Die haben doch alle schon alles! Wie viele Menschen schwärmen aus, Gutes zu tun – und tun es nur sich selbst, indem sie bei der angestrengten Suche nach dem Frust des Nichtfindens sich eine chicke Handtasche, ein paar Schuhe (die Frauen) sowie eine niedliche kleine Digitalkamera oder den tollen kleinen MP3-Spieler (die Männer) gönnen. Dank dieser Konstellation leben sowohl die Lederwaren- wie die Männerspielzeugindustrie – und durch spontane Geschenkbesorgungen in Sockengeschäften, Krawattenläden und Parfümerien kommt es letztendlich doch noch zu Freude allerorten.

Da das Schenken so anstrengend ist, wälzen wir uns zur Erholung über den Weihnachtsmarkt. Glücklicherweise gibt es davon in jeder mittelgroßen Stadt mittlerweile so viele, dass keine Langeweile aufkommt, und der jährliche für Bürger über 18 verpflichtende Glühweintest erledigt dann den Rest.

Die Geschenke, vom Einpackservice individuell drapiert, liegen nach Empfängern getrennt in Tüten im Schlafzimmerschrank – doch Ruhe mag nicht einkehren. Wir müssen nämlich noch für die Festtage einkaufen. Halb Deutschland scheint Heiligabend Bockwürste zu essen, die andere Hälfte Frankfurter. Wer sich in diesen beiden Hälften nicht wiederfindet, ist kein Deutscher und darf am ersten Weihnachtsfeiertag zur Nachprüfung. Da darf es dann gerne eine Gans sein, vornehmlich mit Rotkohl (andernorts: Rotkraut) und Knödeln serviert. Es gibt auch weniger schmackhafte Varianten, aber wer damit ankommt, fällt durch.

Der Einkauf dauert zwei Stunden ohne Fahrzeit, die nochmals mit drei Stunden zu Buche steht. Die Summe in Euro ist zu hoch, und zu Hause stellt man fest, dass eine wesentliche Zutat vergessen wurde. Der Kühlschrank allerdings fasst die Zutaten sowieso nicht, weswegen das Schlafzimmer als kältester Raum zur Speisekammer umfunktioniert wird und Vatter morgens schlaftrunken über die Gans stolpert und in die Sahnetöpfchen tritt.

Einen Höhepunkt bei der Vorbereitung des Festes erleben wir zweifelsohne am 24. Dezember. Der Baum muss geschmückt werden. Dazu wird das teure Stück, das bis zu diesem Moment im klassisch eng anliegenden Netzkleid eine Nebenrolle spielte, zum Hauptakteur. Ein gekonnter Schnitt – und mit einem Schlag offenbar sich das ganze Elend: Unten herum am Stamm zu dick („wie soll das denn bitte in den Ständer passen?“), in der Mitte vorne ausladend und hinten etwas schwach auf der Brust, wenn dieses schiefe Bild einmal gestattet sei. Ein typisch partnerschaftlicher Disput an dieser Stelle lässt die wahre Vorfreude aufs Fest aufkommen, die nur noch durch die Lösung der Frage vergrößert werden kann, welche Farbe die Kugeln dieses Jahr haben sollen („Lila? Nicht mit mir, das sage ich dir: Nicht mit mir!“).

Den Rest des Tages kann man nicht besser beschreiben als mit „Warten aufs Christkind“. Fernsehen, Kaffee trinken, in die Kirche gehen – wobei der Besuch im Gotteshaus vielleicht bei der Lösung der Frage hilft, was denn eigentlich am 24. 12. gefeiert wird? Die entsprechenden Antworten einer TV-Umfrage („Adam und Eva sind da geboren“ oder, schon besser: „Jesus!“ – allerdings mit der Nachfrage „wann?“ und der Antwort „Na, so 1902!“) lassen allerdings vermuten, dass die vielen Kirchgänger nicht wirklich wissen, was sie da tun. Am Abend, der ja eigentlich der „Heilige“ ist, gibt’s die erwähnten Würste und fast immer ein schlechtes Fernsehprogramm, was aber dennoch angesehen wird.

Der 25. Dezember ist Gänsebratentag mit Familienaustauschprogrammen. Der Gänsebraten regt wie jedes Jahr zur Diskussion an, ob der Vogel kross genug gebraten sei und auch genug Fleisch habe. Einigkeit wird dabei selten erzielt, wobei im Sinne des Familienfriedens auch die Variante denkbar ist, sich zu einigen auf das Argument, dass diese ausländische Tiefkühlware einfach nicht vergleichbar ist mit den frischen Gänsen von Bauer Horst.

Am Nachmittag kommen Oma und Opa, Schwager Bernd mit Schwester Gabi und den beiden dreijährigen Zwillingen. Der Nachmittag hat zwei Chancen: Er kann sich gut entwickeln zum Naschmittag mit Keksen, Kuchen, Stollen, Pralinen und, weil das ja sonst kein Mensch aushält und allein verdaut, einem Cognac. Wenn es so läuft, ist es ein netter Nachmittag. Andererseits besteht aber auch eine große Chance, dass die Kinder plärren, Bernd sich mit der Schwiegermama in die Haare bekommt und diese leidige lila-Weihnachtskugel-Frage im Zusammenhang mit dem krüppeligen Weihnachtsbaum noch einmal thematisiert werden.

Die Schneefallwahrscheinlichkeit zu Weihnachten beträgt zehn Prozent – die Familiendisharmoniewahrscheinlichkeit eher neunzig. Es spricht allerdings für das kumulative schauspielerische Geschick der Menschen draußen im Lande, dass sie sich mit den Worten verabschieden, wie nett es mal wieder gewesen sei und man doch im nächsten Jahr so ein tolles Familienfest baldmöglichst wiederholen sollte.

Oder besser so nicht?

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