Weltweiter Stammtisch

Ludger Freese

Das Internet, wir wissen es, ist eine Brutstätte des Bösen. Vor dem Internet gab es ja keine Kriege und auch keine Mörder, und deswegen musste man die Menschheit ja auch nicht vor Helden wie Hitler schützen.

Oder ist das alles ganz anders? Könnte es etwa sein, dass es eine Menge Menschen gibt, die das Internet als eine ziemlich geniale Möglichkeit nutzen, Neues kennen zu lernen, den eigenen Horizoint zu erweitern, sich miteinander zu vernetzen – über die engen Grenzen von Kleinkleckershausen hinweg? Könnte es sein, dass dieses Medium, das nur noch Ahnungslose „neu“ nennen, mehr für die Demokratisierung leistet als alle demokratischen Politiker(innen) zusammen, dass wir hier eine Technik haben, die vielleicht Musikverlagen nicht gefällt – aber Musikern? Willkommen im Land der Kreativen, der (Quer-)Denker, der Aktiven, der Aufgeschlossenen (und das alles schließt, obwohl nur in der männlichen Form geschrieben, selbstredend auch und gerade die Frauen ein).

Unsereins, der sich gerne und oft auch virtuell herumtreibt, stößt ja häufig auf Unverständnis. Aber das ist ja nichts wirklich Bemerkenswertes bei Dingen, die anderen (noch) fremd sind: Als Berta Benz am 5. August 1888 zur ersten Fernfahrt mit einem Auto startete (ohne Wissen ihres Mannes übrigens), sprangen die Menschen längs ihrer Route entsetzt zur Seite und bekreuzigten sich – heilig’s Blechle. Eine Kutsche ohne Pferde – das kann doch nicht gut gehen!

Wenn wir heute, zum Beispiel, twittern, dann ist das eigentlich nicht anders. Zwar bekeuzigt sich kaum einer, aber einen Vogel gezeigt bekommt man heute schon noch von vielen – was ja sehr angemessen ist, denn to twitter ist englisch und heißt zwitschern. Aber so wie das Auto eine Kutsche ohne Pferd ist, so ist Twitter vielleicht ein weltweiter Stammtisch: Hier kommen Menschen zusammen, um miteinander zu klönen, zu debattieren, um Geschäfte zu machen. Nicht alles ist sinnvoll – aber zeige mir einer eine Eckkneipe, in der es nur hochphilosophisch zugeht.

Bei Twitter sucht man sich die Leute aus, mit denen man Kontakt haben will, deren Geschreibsel man lesen und goutieren möchte, mit denen man sich austauscht. Manche wohnen in der gleichen Stadt, manche weiter weg. Einer von denen, die ich über Twitter kennen gelernt habe, ist Metzgermeister und wohnt in Visbek. Auch wenn die Leute aus Visbek das nicht gerne hören werden: Man muss die Gemeinde nicht kennen – sie liegt 50 Kilometer südwestlich von Bremen. Aber dennoch fuhren Sylke und ich jetzt dorthin – um eben jenen Metzgermeister kennen zu lernen, der recht netzaktiv ist – mit eigenem Blog „Essen kommen!“ und der famosen Shop-Adresse World Wide Wurst.

Es war Sonntagnachmittag, als wir von Bremen kommend Zeit für eine STIPvisite beim @lusches hatten – und natürlich twittert man sich zusammen. Was ich mit ein wenig vorbereitendem Lesen im internet (!) hätte wissen können – aber nicht ahnte – erfuhr ich bei der Ankunft: „Herzlich willkommen! Kommt rein! Wir feiern gerade einen Geburtstag – meinen!“ Die Belegschaft hatte den Chef zum Kaffee überfallen – pardon: überrascht, und dann auch noch wir, die beiden Unwiesen aus dem Osten! Aber egal: Bei Nusskuchen, Kaffee und reichlich Spaß fühlten wir uns wie bei alten Bekannten.

Bei einer Betriebsführung lernten wir dann die Visbeker Zentrale der World Wide Wurst kennen – freuten uns, im Laden die Saftboxen von Kirsten Walther aus Arnsdorf bei Dresden zu entdecken, begeisterten uns am Eisenhandschuh, der das Abgleiten der rattenscharfen Metzgermesser zum teuflischen Vergnügen macht, weil nichts passiert, waren tief beeindruckt vom Kalb, das da hälftig in der Kühlung abhing.

Ludger FreeseLustig fand ich, dass das Kalb aus meiner Heimat Ostfriesland stammt und dort hinterm Deich auf den Salzwiesen futterte – mit dem fremdbestimmten Ziel, nun demnächst von einem Ostfriesen in Dresden nach sanfter Garung auf den Tisch des Hauses gebracht zu werden (Bericht folgt später!). Und dass ein Metzger den weiten Weg von Visbek bei Bremen bis nach Norddeich hinter Leer fährt, nur um gutes Fleisch zu haben, erregt ein schönes Gefühl der Hochachtung: Da nimmt einer seinen Beruf noch ernst und tut dem Kunden Gutes.

Der Besuch im wirklichen Leben, das stellten wir auf dem langen Weg nach Dresden fest, ist die Krönung der virtuellen Kommunikation. Aber ohne die wäre das alles (und noch viel mehr…) gar nicht möglich.

Gefahrenquelle Internet?

1 Kommentar

  1. Du hast das sehr gut beschrieben, lieber Ulrich. Fast den gleichen Vergleich, wie einige Leute das Social Media begegnen, hatte ich in meinem letzten Vortrag in Hamburg. Freue mich, dass wir uns schon so lange kennen. Mein nächster Besuch in Dresden, wird auch mal zu Euch führen.

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