Etwas für geneigte Leser

Turmstützer

Nach Pisa kommen viele Menschen nur aus zwei Gründen. Der andere heißt Galileo Galilei und ist ein nicht sonderlich attraktiver Flughafen. Aber in nur fünf Minuten ist man ja mitten in Pisa, denn ein Bummelzug verbindet den Aeroporto mit dem Bahnhof. Der ist ganz hübsch, aber keineswegs direkt an der Hauptattraktion der Stadt gelegen, dem Campanile. Aber den muss man doch gesehen haben, denn der schiefe Turm von Pisa ist so etwas wie die Mutter aller schiefen Türme – obgleich keineswegs der schiefste (der steht in Sur­huusen in Ostfriesland) oder höchste (der Turm des Montréaler Olympiastadions ist mehr als dreimal so hoch).

Weltkulturerbe Platz der WunderAber der schiefe Pisaner Turm hat wohl die schönste Lage und das beste Marketing. Er hat sich schon recht früh geneigt, weil er keinen Grund hatte: Zwölf Jahre nach Baubeginn 1173, man war gerade beim dritten Stock des auf über hundert Metern Höhe angelegten Turmes angelangt, war er bereits zu schwer für den Boden unter ihm geworden. Der gab dem Druck nach – an der einen Seite mehr als an der anderen, so sackte das Fundament ab und der Turm neigte sich. Die Flüche des Baumeisters sind nicht überliefert – aber was hätte er vor gut 800 Jahren denn sonst machen sollen? Außer: Erst mal Gras über die Angelegenheit wachsen lassen und das Bauen einstellen.

Geneigter TurmFast hundert Jahre später traute sich Giovanni di Simone: Mit leichtem Knick in der Optik baute er weiter: Dank des Knicks sollten die nächsten Stockwerke den Spruch „alles im Lot!“ rechtfertigen. Aber vier Stockwerke mehr brachten mehr Gewicht, und der Turm neigte sich wieder in südliche Richtung. Zehn Jahre nach dem Wiederbeginn des Baus und genau hundert Jahre nach dem ersten Baustopp gibt es den zweiten. Und der Turm hat immer noch keinen Glockenstuhl! Doch er sinkt weiter in den lehmigen Boden, 1298 beträgt die Abweichung vom Lot 143 cm.

Manchmal gilt es ja schon als Erfolg, wenn etwas weniger schlimm ist: Weil die ständige Neigung des Turms sich verlangsamte, traute sich Tommaso Pisano 1360: Er wollte den Turm zum Campanile machen und ihm nun endlich den Glockenstuhl aufsetzen – wieder senkrecht auf den nun 163 cm vom Lot abweichenden Turm.

So sieht man ihn echt besserWahrscheinlich wäre der Turm so oder so ähnlich in seiner Schieflage verharrt, wenn nicht ein gewisser Alessandro Gherardesca 1838 die Erde unten herum durch Marmor ersetzt hätte. Mehr Neigung war die Reaktion des Turms: Einen Überhang von 5,10 Metern maß man im Jahr 1918, ab dem dann wieder etwas Ruhe einsetzte. Doch 1990 musste er für Touristen geschlossen werden: Einsturzgefahr!Zu stark war die Zunahme der Neigung in den Jahren zuvor geworden: Man beschloss, den Turm aufzurichten. 690 Tonnen Blei an der Nordseite, „Hosenträger“ (bretelle) genannte Seile zum Abspannen, gezielte Entnahme von Erdmaterial im Untergrund: Hier konnten sich Bauleute und Wissenschaftler austoben.

Aber nicht allzu doll, nach 44 Zentimetern war Schluss mit Aufrichtigkeit: Schließlich wollte man das Alleinstellungsmerkmal eines schönen schiefen Turms an kulturträchtiger Stelle nicht verlieren! Denn Pisa ohne schiefen Turm – das wäre doch irgendwie langweilig…

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