Sagrada Familia: Irgendwer baut hier immer

Sagrada Familia

Was man so weiß mit dem fundierten Achtelwissen: Die Sagrada Familia ist das Wahrzeichen von Barcelona. Scheinbar nie fertige Kirche, das Hauptwerk von Antoni Gaudí – ein Besichtigungsmuss. Die (bisher) acht eigenwillig geformten Türme sieht man schon von weitem, von den Hügeln der Stadt und – beispielsweise – vom Dach eines anderen Gaudí-Gebäudes, La Pedrera. Höher als die Türme sind bisher nur die Kräne, weithin sichtbare Zeichen der Bautätigkeiten, doch das soll sich ändern: Wenn das Bauwerk (geplant ist 2026, zum hundertsten Todestag von Gaudí) fertig ist, soll es den mit 170 Metern höchsten Kirchturm der Welt haben. Armes Ulm!

Sagrada Familia Wenn man seinen Besuch plant, kann man den langen Schlangen vor den Eingängen recht einfach ein Schnippchen schlagen: Die Karten übers Internet kaufen und einen separaten Eingang mit deutlich geringerem Andrang nutzen. Die Empfehlung, einen der Türme zu besteigen, kann man nur unterstreichen – wobei man zwischen denen an der Passionsfassade im Westen und denen an der Geburtsfassade wählen kann – die im Osten, lasen wir bei den Vorbereitungen in unserem Reiseführer, seien empfehlenswerter.

Egal wo die Türme sind: Erst geht’s hinein in die Kirche, und zwar durch den Eingang der Passionsfassade. Die ist gerade mal wieder under construction, also es wird gebaut. Auch die Türme haben Zipfelmützen an – irgendwer baut hier immer. Gaudí hatte – sehr zum Leidwesen der Stadtverwaltung – mit der gegenüberliegenden Fassade begonnen, die die Geburt von Jesus thematisiert. Leider war das die Fassade, die der Stadt abgewandt ist. Die Westfassade, die man sieht, wenn man aus der Stadt kommt, wurde 1954 nach Plänen und Modellen von Gaudí begonnen, die Türme 1976 vollendet. Der Unterschied zwischen Gaudís Vorstellung und der tatsächlichen Umsetzung zeigt viel von der Entwicklung im Bauwesen – materiell wie gedanklich.

Während hier draußen unter den Skulpturen noch allgemeines Geschnatter zum guten Ton hört, ändert sich das wenige Meter weiter nach dem Betreten der Kirche.

Sagrada Familia

Der Kopf geht hoch. Die Mundklappe fällt runter. Das Staunen nimmt kein Ende. Na klar, Kirchen sind immer so gebaut, dass man sich winzig vorkommt. Aber selbst diejenigen, denen man „lichtdurchflutete Räume“ nachsagt, sind vergleichsweise Dunkelbuden gegenüber der Sagrada Familia. Hell und hoch, mit schlanken Stützen, die sich wie Bäume oben verzweigen, mit farbigen Fenstern, die das Licht brechen und Säulen und Fußboden in farbiges Licht tauchen. „La arquitectura es la ordenación de la luz“, hat Gaudí einmal gesagt, die Architektur ist das Management des Lichts.

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Die Faszination hält wohl 15 Minuten an, in denen die Augen vom einen zum nächsten Punkt schweifen und die Gedanken sich zu ordnen versuchen. Und auch nach dieser Viertelstunde verlässt den Mund nicht wirklich Qualifiziertes: „Wahnsinn!“ Wobei, so ganz daneben liegt man mit diesem einen Begriff nun doch nicht, denn als Antoni Gaudí am Ende seines Studiums der Architektur angelangt war, soll sein Schuldirektor die Überreichung der Urkunde mit den Worten „Ob wir den Titel einem Verrückten oder einem Genie gegeben haben, wird die Zeit zeigen“ kommentiert haben – und auch Gaudí selbst befand auch eher freudig-skeptisch: „Sie sagen, dass ich ein Architekt bin!“

Sagrada Familia Sagrada Familia Sagrada Familia

Sagrada Familia

Wieviel Genie in dem Verrückten steckte, merkten und merken die Architekten, die nun schon in siebter Generation nach ihm die Kirche vollenden wollen. Pläne für den gesamten Bau gab es nämlich nicht, sondern nur Ideen, Zeichnungen und Modelle. Das entsprach Gaudís Arbeitsweise. Viel hat er sich von der Natur abgeguckt und damit vor über hundert Jahren praktiziert, worüber sich heute Wissenschaftler den Kopf zerbrechen: Bionik im Bauwesen, von der Natur und ihren Gestaltungsprinzipien lernen: Das ist gerade das große Ding.

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Beim Versuch, es Gaudí gerecht zu machen, kommen die Architekten von heute auch mit rechnerischen Methoden zu Ergebnissen. Mark Burry, neuseeländischer Architekt im Team auf der Baustelle, hat mit seinen Kollegen den Codex Gaudí geknackt. Sie entdeckten das, was Mathematiker Regelflächen nennen. Im Stile der Sendung mit der Maus könnte man sagen: Sieht krumm aus, besteht aber aus Geraden. Mit Fantasie kann man also mit Geraden arbeiten, ohne anzuecken! Aber nicht nur das: Ein bestimmter Rhytmus steckt auch in der Kirche, deren Innenraum mit bis zu 75 Metern Höhe auch Weltrekord ist. 90:60:45 – das sind die Idealmaße, bzw. genauer: dieses Verhältnis ist es. 90:60:45 sind die Proportionen der Kirchenschiffe, ein ganzes, zwei Drittel, die Hälfte. Dieses Maß findet sich beispielsweise auch wieder bei den Säulen: 2,10 Meter Durchmesser haben die des Hauptschiffes, 1,40 Meter die des Mittelschiffs, die der Seitenschiffe 1,05 Meter. Dass sie die Gesamtlänge exakt zwölfteln und damit an die zwölf Halbtonschritte erinnern, die die chromatische Tonleiter ergeben, ist auch kein Zufall. Jordi Bonet, bis 2012 Chefarchitekt der Baustelle, sagte in einem Interview mit Hubert Filser für die Süddeutsche Zeitung: „Die Säulen sind wie ein Wald, und die Geometrie ist wie Musik“.

3 Kommentare

  1. Hallo,
    das ist ja mal ein toller Artikel!
    Danke dafür 😉

    Aber das mit der chromatischen Tonleiter verstehe ich nicht..
    Können Sie mir das erklären?
    Google war da bis jetzt nicht sonderlich hilfreich.

    Herzlichen Dank und einen schönen Tag,
    Sophia

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