Die Würfel sind gefallen

rubicon

Es geht los mit einer Mischung aus Heimatkunde, Regionalgeschichte und großer Weltgeschichte. Der Dreiklang mündete dann quasi in einem Kunstwerk, der 8×14 Meter großen Lichtinstallation von Sebastian Hempel. „rubikon“ heißt das Werk, und man steht davor, sieht die LEDs blinken und ahnt ja schon, dass das alles kein Zufall ist – wo doch das Motto der 7. Internationalen Ausstellung zeitgenössischer Künste „Ostrale“ auf dem Erlweinschen Schlachthofgelände „wir überschreiten den rubikon“ lautet. Nur wie will man diesen Rubikon zerstörungsfrei überwinden?

Moritz StangeBissel viel Information? Naja, dafür gab’s ja den einführenden Unterricht – aus berufenem Munde, denn die Grundlage dieses Berichts ist eine Führung, die der Künstlerische Leiter der Ostrale, Moritz Stange, für Absolventen der TU Dresden veranstaltete. Der Städtische Vieh- und Schlachthof des in Dresden wirkenden Stadtbaurats Hans Erlwein ging 1910 in Betrieb. Die aus 68 einzelnen Gebäuden bestehende Anlage entstand im Großen Ostra-Gehege, vor den Toren der Stadt. Aus gutem Grund, den man knapp zu einem Slogan zusammengefasst im Sockel des Stierdenkmals vor dem einstigen Haupteingang nachlesen kann: Der Gesundheit unserer schönen Stadt Dresden 1906 – 1910. Man baute aber nicht nur hygienisch einwandfrei, sondern auch architektonisch ganz hübsch: Das Ensemble steht unter Denkmalschutz und ist zumindest in den Teilen, die seit 1999 für die Dresdner Messe genutzt werden, restauriert.

Vom Winde verwehtAber noch ist nicht alles fertig – in einem Haus im nördlichen Teil der künstlich aufgeschütteten Insel (nördlich der jetzige Elbverlauf mit netter Mäanderschleife, südlich die abkürzende Flutrinne, die nicht immer wasserlos ist) flattern die Dederon-Gardinen so malerisch, dass man das schon für Kunst halten könnte. Gar nicht so abwegig, denn gleich nebenan gibt es ebenfalls unsaniert und damit angemessen morbid, die Futterställe (unten) und Heuböden (oben). Zusammen mit dem ebenfalls rustikalen Außengelände ist das der passende Rahmen für die Ostrale, die „gattungsübergreifend und interdisziplinär ausgesuchte Positionen der zeitgenössischen Kunst präsentiert“, wie die Leiterin und Initiatorin der Ostrale Andrea Hilger sagt.

Auflauf

Manch einer steht staunend vor der Kunst, und wer nicht in der Szene verankert ist, ist mit einer fachkundigen Führung gut beraten: Vieles von dem, was man da sieht, erschließt sich nicht auf Anhieb, bekommt aber – gut erklärt – Tiefe und Struktur. Wer offen ist, kann seinen Horizont gehörig erweitern auf der Ostrale. Wer keine Führung mitmachen möchte, hat’s schwerer, kann sich allenfalls den (mit 19,80 € erfreulich günstigen) Katalog zu Hilfe nehmen – aber muss dann billigend in Kauf nehmen, dass Kulturwissenschaftler*innen beim Schreiben manchmal ganz schön verwegene Satzkonstruktionen und Wortkombinationen wählen. Aber man kann ja auch, alternativ zu Führung und Katalog, sich einfach nur vor die Kunst stellen und sie auf sich wirken lassen.

MittellageManchmal funktioniert das ganz gut, auch wenn dann vielleicht sich nicht alles erschließt. Aber wie bitte soll man ohne Hilfe rauskriegen, dass Rasso Rottenfusser in seiner raumgroßen Installation mittellage „grundsätzliche Strukturen und Liniensysteme des Bildaufbaus des Gemäldes „Das große Gehege“ von Caspar David Friedrich interpretiert“ (Moritz Stange)? Wie soll man, hinter Tor 6 im Futterstall Ost, erahnen, dass „die Position der Arbeit auf die Übigauer Allee, Pieschener Allee und die Mittelachse zwischen beiden Alleen ausgerichtet ist“ (wieder Moritz Stange)? Siehste: Geht nicht. Aber mit dem Wissen macht es Spaß, das Werk zu betreten – und auch zu entdecken, dass es im Raum nebenan eine Fortsetzung findet!

Wand Sara Hoppe

So viel zu sehen, aber längst nicht alles blieb gespeichert. Außerdem gab es Bilder, die gar keine waren, aber dennoch im Kopf entstanden. Die Wand des Futterhauses mit ihren gegebenen Farbcollagen wetteifert mit den „übereinander gefügten Farbschichten der Arbeiten Sara Hoppes“ (Moritz Stange). Schönheit liegt im Auge des Betrachters – und nicht nur die. Also haben wir uns zum Komplizen gemacht und dem gleichnamigen Künstlerprojekt, das die beiden Niederländerinnen Mitsy Groenendijk und Anya Janssen kuratierten, eigenhändig etwas hinzugefügt. Um Hände geht es bei der Kunst an der Wand hinter Tor 3 (West), und die kleine Hand des Babies auf dem Arm seiner Mutter ist die lebendige Ergänzung.

Komplizen Komplizen

Graffity of VelocityDie Blue-Ray-Projektion von Takehito Koganezawa nimmt die Besucher*innen nicht zufällig in Kauf, sondern rechnet mit ihnen. Denn fast egal, wo man steht: den oszillierenden Lichtern aus den Projektoren entkommt man nicht. Man sieht, neben den Tokioer Lichtgestalten den Schatten seiner selbst – oder den Schatten der Anderen.

LumpsAch so ja, der Rubikon. Wir haben uns westwärts durch den Futterstall durch die Ausstellung geguckt und sind dann oben auf dem Heuboden ostwärts zurück. Da gibt’s auch noch viel zu sehen, aber irgendwann muss ja mal gut sein mit Anreizbeschreibung, oder? Aber vielleicht sollte man doch noch eine Künstlerin erwähnen. Lilith Love lädt sich zu (nicht unbedingt ihr dolle bekannten) Leuten ein, schickt die dann für ein Wochenende fort und macht was aus der Situation. Man sieht die Künstlerin in allerlei befremdlichen Posen. Als Tisch für eine Teekanne im Garten, als fakirhaft Liegende auf dem Bettgestell (ich wette ja immer noch, dass das in wesentlichen Teilen eine Photoshop-Kunst-Aktion war!) oder die Treppe des Gastgeberhauses hinaufspazieren. Nicht immer hat sie viel an auf den Bildern, aber nicht nur deshalb nennt Verena Hartmann im Katalog diese Bildserie „den wohl intimsten Einblick in ein Privatleben auf der diesjährigen Ostrale“. [Update: Wette verloren, siehe Kommentare!]

Wir fanden es weniger intim als richtig professionell gut gemacht und verließen beseelt den Heuboden, um wo zu landen? Am anderen Ufer des Rubikon. Die Würfel sind gefallen!

 

OSTRALE’O13
5. Juli bis 15. September, im Areal Futterställe und an einigen externen Orten

Geöffnet:
Dienstag bis Donnerstag: 11 – 20 Uhr
Freitag und Samstag: 11 – 22 Uhr
Sonntag: 11 – 20 Uhr

Messering 8
01067 Dresden

Tel. 0351 / 6533763
www.ostrale.de

4 Kommentare

  1. Schön dass Sie Ostrale’013 besucht haben. Ganz nett dass Sie meine Selbstporträts erwähnen. Vielen Dank. Schade dass man weil es heute Photoshop gibt nicht glaubt was man sieht. Ich habe da wirklich auf dem Bettgestell gelegen und mit Fernbedienung das Bild gemacht. Nicht das Liegen war schwierig aber der Fokus. Wenn man alles alleine macht ist der richtiger Fokus nicht immer einfach. Ich betrachte Ihren Zweifel als grosses Kompliment und ‚beseelt‘ finde ich auch sehr gut. 😉 Gruss, Lilith

  2. Liebe Lilith, schön dass Sie hier mitlesen – und meine Zweifel zurechtgeschubst haben! Aber ohne diese Zweifel hätte ich doch sicher keinen Kommentar bekommen, also hat sich’s gelohnt! Wette verloren, gerne. Ich spendiere einen Wein!

  3. Sehr geehrter Herr von Stipriaan,
    daran, dass ich mich erst drei Monate später melde, können Sie ersehen, dass das „Baby auf dem Arm der Mutter“ mich ganz schön beschäftigt….
    Ein wunderbares Foto! Und ich frage einfach mal nett und hoffnungsvoll an, ob Sie es mir (und meiner Tochter) vielleicht als schöne Erinnerung schicken könnten.

    Besten Dank und Gruß,
    Katja

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