…und sich beide Kulturen nur langsam mischen

Sonderausstellung im Verkehrsmuseum: Migration. (Aus-)Wanderung, Flucht und Vertreibung in Geschichte und Gegenwart

Joachim Breuninger

Es ist eine Reise ins Ungewisse – wenn auch mit gewiss sicherem Ausgang, denn wir sind ja im Museum. Migration. (Aus-)Wanderung, Flucht und Vertreibung in Geschichte und Gegenwart ist der Titel der aktuellen Sonderausstellung im Dresdner Verkehrsmuseum. Die Besucher betreten sie über eine Gangway – wie die geschätzt 400.000 Deutschen, die allein zwischen 1820 und 1850 in die neue Welt auswanderten – auf nach Amerika, wegen der politischen Verhältnisse, der strengen Zunftregeln, wegen Missernten und Hungersnöten hierzulande. Und das waren nur die, die sich die teuere Passage leisten konnten. Sie wussten nicht wirklich, was sie erwartet – aber vergleichsweise hatten sie es ja noch gut. Vergleichsweise zum Beispiel zu den 60 Millionen Menschen, die aktuell weltweit auf der Flucht sind. Oder aber zu denen, die vor 7.000 Jahren und mehr aus dem Mittleren Osten zu uns kamen, „über Anatolien, Zypern nach Griechenland und von da über den Balkan“ (Ausstellungstext).

Kumpf, 5.200 v.Chr.Da es damals keine asozialen Medien gab, wissen wir nicht genau, wie herzlich die Einwanderer hier empfangen wurden von den Jägern und Sammlern. Wir können nur ahnen, dass sie die Neuankömmlinge distanziert empfangen haben. Denn die Zuwanderer bescherten den Einheimischen einen Zivilisationssprung, weil sie in der Entwicklung schon ein wenig voraus waren und erkannt hatten, dass man mit Ackerbau und Viehzucht auch sesshaft werden kann. Wieso wir das wissen? Nach Funden in Sachsen und Sachsen-Anhalt ergaben genetische Untersuchungen, „dass die Einwanderer lange Zeit isoliert neben den einheimischen Jägern und Sammlern lebten und sich beide Kulturen nur langsam mischen“ (Ausstellungstext). Alles also schon mal da gewesen, was es ja nicht besser macht. Was die Einwanderer aber beispielsweise mitgebracht haben, wissen wir: So ’ne Art Müesli-Schalen. Archäologen nennen die Fundstücke wandkeramische Kumpfe. Aus Lehm oder Ton gebrannt, henkellos und außen verziert. Gefunden wurde der Kumpf, den man in der Ausstellung sehen kann, übrigens bei Dresden Nickern bei Ausgrabungen vor dem Bau der Autobahn.

DonauschwabenWährend der Auslöser der Migration bei den Ackerbauern unbekannt ist, sind die Ursachen jüngerer Wanderbewegungen bekannt. Und bei all denen haben sich die Ausstellungsmacher gefragt, was Menschen in Vergangenheit und Gegenwart dazu bewegt, die Heimat zu verlassen. Biographien und Momentaufnahmen, bekanntere Namen wie die des Pfarrers Johann Karl Reichard, der für die Auswanderung der Donauschwaben im 18. und 19. Jahrhundert (dessen Brief aus dem Banat an den Kollegen in der Heimat bekannt ist) und Portraits von unbekannteren Frauen und Männern, die ihre Heimat verlassen haben – um nach Deutschland zu kommen oder um Deutschland zu verlassen.

Joachim BreuningerUnd was hat das mit Verkehr zu tun, was hat so eine Ausstellung im Verkehrsmuseum zu suchen? Museumschef Joachim Breuninger nennt zwei Beweggründe. Der erste kommt eher aus dem Bauch – oder auch aus dem Herzen, wie man will: „Als die Idee zur Ausstellung vor einem Jahr auf dem ersten Höhepunkt der Flüchtlingswelle entstand, stand für uns fest: Wir müssen als Verkehrsmuseum etwas dazu sagen, wir müssen neu denken!“ Und das zweite, dann eher sachlich-rationelle Argument: „Migrationsgeschichte ist immer auch Verkehrsgeschichte!“ Die Donauschwaben nutzten kleine Flussschiffe, die großen Auswanderungswellen aus Deutschland in die USA wären ohne Eisenbahn und Dampfschiffe so nicht möglich gewesen. Und auch das ist eine Erkenntnis der Ausstellung: Der Auswanderungswunsch ist auch immer etwas für Geschäftemacher. Schlepper heute, damals etwas hanseatisch-vornehmer die Kaufleute vom Norddeutschen Lloyd, die zur Auslastung ihrer Dampfschiffe die Ausreise nach Amerika als Komplettpaket verkauften. Zu einem Preis, der etwa drei Jahresgehältern eines Dienstmädchens entsprach. „Die gänzlich Mittellosen konnten es sich also gar nicht leisten, auszuwandern.“ Für solche Sätze liebe ich die Macher des Verkehrsmuseums, denn sie machen Geschichte konkret. Dass eine Überfahrt 30 Gulden kostete, steht auch da – aber mit der Zahl allein kann man es ja nicht einordnen.

Die Ausstellungsmacher(Aus-)Wanderung, Flucht und Vertreibung in Geschichte und Gegenwart lautet der Untertitel der Ausstellung. Das deutet auf die Sichtweise des Kommen und Gehen hin, dargestellt neben den schon erwähnten Ereignissen auch an nicht immer leichten Themen wie der Flucht und Deportationen von Juden während des Nationalsozialismus, der Flucht vor der Roten Armee 1944/45, der Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg, Flucht aus der DDR 1961 bis 1989, der deutsch-deutschen Migration in den 1990er Jahren, Ein- und Auswanderern der Gegenwart. Für die Kürze der Zeit ein sehr zum Nachdenken anregendes Ergebnis, das Benjamin Otto (der vor einem Jahr noch dachte, eine Ausstellung zum Thema Fahrrad gestalten zu müssen und sich dann in das Thema Migration hinein kniete) zusammen mit den drei Absolventen von der Burg Giebichenstein Tanja Unger, Matthias Zäusler und Stephan Schuh erarbeitet haben. Eine Ausstellung zum Ansehen, mit kurzen und verständlichen Texten, die zum Nachdenken anregen – und die es jetzt schon auf den Tafeln auch auf englisch gibt und demnächst auch auf arabisch.

Verkehrsmuseum Dresden
Augustusstraße 1
01067 Dresden

Tel. 0351 / 8644-0
www.verkehrsmuseum-dresden.de

Geöffnet:
Dienstag bis Sonntag von 10 – 18 Uhr · Montag geschlossen

Migration. (Aus-)Wanderung, Flucht und Vertreibung in Geschichte und Gegenwart. 16. Juni bis 30. Dezember 2016.
Der Beitrag basiert auf einem Rundgang vor Eröffnung der Ausstellung mit Museumsdirektor Joachim Breuninger und einer Gruppe von Twitterern, Bloggern etc. – Hashtag: #MigrationVMD


Begleitprogramm:

Podiumsdiskussion 31. August 2016, 18 Uhr: Neue Heimat Dresden
Zuwanderer mit unterschiedlichen Biografien erzählen über das Gehen, Unterwegs sein und Ankommen. Eintritt frei

Politdebatte: 2. Oktober 2016, 20 Uhr: Chancen und Risiken von Migration
Bundes- und Landespolitiker debattieren, was die Zu- und Abwanderung für Sachsen und Deutschland bedeutet. Eintritt frei

Bildervortrag 19. Oktober 2016, 18 Uhr: Syrien – meine zweite Heimat
Reingard Al-Hassan, Direktorin der Hochschulbibliothek Zwickau, lebte von 1982-1989 in Syrien und seither immer wieder in das Land zurück. Eintritt frei

Podiumsdiskussion 9. November 2016, 18 Uhr: Fluchtland DDR
27 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer berichten Zeitzeugen von der Flucht aus der DDR, aber auch in die DDR. Eintritt frei

Offene, kostenlose Führung durch die Sonderausstellung: Jeden Samstag ab 25.06., 15 Uhr
Führungen für Schulklassen möglich.

Sommerferienaktion: Was bedeutet Heimat für mich?
1., 8., 15., 22., 29. Juli, 15-16 Uhr; 5. August, 15-16 Uhr

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*