Tour de Siel in Ostfriesland

Leybucht offenes Sieltor

Wer merkwürdig klingende Ortsnamen sammelt, wird in Ostfriesland schnell fündig. Utlandshörn, Tjüche, Upgant-Schott und ähnlich wohl klingende Namen muss man ja einfach in ihrer Einzigartigkeit lieben. Aber es gibt auch Orte, bei denen man ein System zu erkennen glaubt:  Greetsiel, Leybuchtsiel, Hilgenriedersiel, Nessmersiel, Dornumersiel, Westeraccumersiel, Bensersiel, Neuharlingersiel, Carolinensiel: das klingt nicht nach Zufall!

Leybuchtsiel EntwässerungIst es natürlich auch nicht, denn ein Siel ist erst einmal nur eine Deichschleuse, ein Wasserregulator zur Entwässerung des Landes und gleichzeitig als Absperrtor im Deich, das das Meer auf seine Seite verweist und es nicht durchlässt. Das Praktische: das Siel sorgt quasi von selbst durch den Wasserdruck für den geregelten Abfluss des Binnenwassers ins Meer (ablaufend Wasser)  und zum Schutz des Binnenlandes vor dem Eindringen des Salzwassers (auflaufend Wasser). Erst diese Erfindung ermöglichte die geschlossene Eindeichung des Küstenlandes.

Orte, die so ein Siel haben, sind dann eben Sielorte. Und egal, wo sie heute zu finden sind: sie lagen ganz sicher mal an der Grenze zum Meer. Unsere Tour ist eigentlich was für (mindestens) zwei Tage: Greetsiel mit dem Pilsumer Leuchtturm und der Leybucht geben Stoff genug für einen Tag, die anderen Siele kann man durchaus dann am anderen Tag abarbeiten.

Greetsiel

Zwillingsmühlen

Wenn es ein Bild gibt, dass für Greetsiel steht, dann ist es das der Zwillingsmühlen. Für sie gilt, wie für so manche Dinge: mit Abstand betrachtet sind sie am schönsten. Denn direkt davor steht man auf der Straße und sieht mal die eine und mal die andere zweistöckige Galerieholländer gut. Ein feiner Standort (am Bootsverleih) rückt beide Mühlen ins Licht plus, mit etwas Glück, auch ihre Spiegelung, so dass man Doppelzwillingsmühlen hat. Die grüne Mühle stammt aus dem Jahr 1856 – sie ist die westliche der beiden. Die rote (ergo östliche) wurde 1706 gebaut, man kann sie besichtigen.

Greetsiel HafenAber Greetsiel bietet natürlich mehr. Es war mal ein beschauliches Fischerdorf, und bevor der Tourismus kam, hieß es in Ostfriesland immer: die Greetsieler Fischer sind die besten. Keine Ahnung, ob das belastbar war. Was aber stimmt: der Hafen war schon immer ein sehr feiner für Sehleute, früher mit sparsam eingesetzter Analogkamera genau so wie heute mit Glaslinsenfotografie im Smartphone. Auch weil die Greetsieler Fischer die Boote so prima und farbenfroh in Schuss halten.

Die Fischerboote gehören zu Deutschlands zweitgrößter Krabbenfischerflotte (nur die Büsumer ist größer). Um auf halbwegs offenes Meer zu kommen, müssen sie ein wenig tuckern: der Hafen ist durch die permanente Landgewinnung zum Binnenhafen geworden. Der Vorteil der Kanalfahrt bis zum Meer: nun ist immer Wasser da, man hat der Tide ein Schnippchen geschlagen. Das Leysiel mit Schleuse macht’s möglich, das die Fahrrinne immer genug Tiefgang hat.

Greetsiel Leyhörner SieltiefWenn man nicht Fischkutter ist (was ja für die meisten der hier Lesenden zutrifft), bietet sich ein Ausflug – zu Fuß oder mit dem Rad – an. Mit dem Ziel Pilsumer Leuchtturm hat man was Reelles aus der Touri-Kiste „Musste gesehen hab’n“ und läuft/fährt lange Zeit parallel zum Leyhörner Sieltief. Als Radler ist es nicht weit bis zur Schleuse, als Fußgänger (in diesem Fall: wir) schenkt man sich das und geht straks zum Leuchtturm.

Pilsumer Leuchtturm

Pilsumer Leuchtturm

Eigentlich ist der Pilsumer Leuchtturm an Unbedeutsamkeit kaum zu überbieten (oder muss es in diesem Fall unterbieten heißen?). Der kleine Dicke ist nur etwa zwölf Meter hoch, Stufen zählen bereitet auch keine Probleme (28 sind’s) – und vor allem: er leuchtet offiziell schon seit 1915 nicht mehr (nachdem er am 31. Oktober 1891 in Betrieb genommen wurde). Vier solcher Leitfeuer beleuchteten einen festgelegten Sektor auf dem Schiffsfahrweg zwischen Emden und der Nordsee – bis die Ems durch Sandablagerungen den Schiffen eine neue Route aufdrängte.

Natürlich hatte der Turm während seiner Dienstzeit nicht so ein attraktives Ringelpietzkleid an, sondern kam im sachlichen Rot daher. Erst die Renovierung brachte – nach langer Zeit grauer Leuchtfeuertristesse – das rot-gelbe Gewand. Aber echte Berühmtheit kam erst mit dem dritten Otto-Film über den Pilsumer Leuchtturm. Während die Kritik den Film abkanzelte („Dürftiger Klamauk mit alten Kalauern und abgestandenen Witzen. Der dritte Blödelstreich Ottos ist nicht mehr als eine gigantische Werbeveranstaltung für den Hauptdarsteller“), irrte sie auch: der Film ist eine Werbeveranstaltung für Greetsiel, weswegen es am Leuchtturm, in dem man mittlerweile heiraten kann, auch einen großen Parkplatz gibt.

Leybuchtsiel

Leybuchtsiel

Das alte Siel ist die Lücke im Deich zwischen Norder Tief und der alten Leybucht. Auf dem Weg nach (oder von) Greetsiel lohnt sich der Halt hier, auch um ein wenig über Sinn und Zweck von Sielen nachzudenken. Zwei Tafeln (eine wohl aus dem Jahr 1930 und die andere von 2002) lohnen das Lesen. Der älteren entnehmen wir technische Daten: erbaut 1928 – 1930, Deichschluss und 1. Schließung der Sieltore 25.7.1929. Bauherr war der Entwässerungsverband Norden – und dessen Mitglieder werden auch namentlich genannt. Die Herren (nur die, so war das damals…) sind mehrheitlich Sielrichter oder Deichrichter, und sie kamen aus einem weitläufigen Bereich: Grosse Norder und Hilgenrieder Sielacht / Neßmer Sielacht / Addingast-Leysander Sielacht / Alt- und Gastmarscher Sielacht / Westercharlottenpolder Sielacht / Deichverband Leybucht.

Leybuchtsiel WetterfahneAuch das jüngere Schild wurde in Erinnerung an einen abgeschlossenen Bauabschnit angefertigt. Ziel der Arbeiten war, wie vor hunderten von Jahren, „die für das Überleben hinter dem Deich unverzichtbaren Voraussetzungen Deichsicherheit und Entwässerung“, auch wenn man in diesem Fall neue Wege beschritt und die verlandete Leybucht nicht eindeichte, sondern wesentliche Aspeke des Naturschutzes beachtete: die Leybucht „blieb dadurch als wertvoller Bestandteil des Nationalparks niedersächsisches Wattenmeer erhalten. Für den Entwässerungsverband Norden – zuständig für 24.500 ha Fläche – hat sich nach der Errichtung des Leybuchtsiels 1929 und des Schöpfwerkes 1962 jetzt eine grundlegende Veränderung ergeben: das gesamte Verbandsgebiet entwässert nicht mehr direkt sondern durch den neuen Störtebeker Kanal vorbei an Greetsiel über das Leysiel in die Nordsee.“ Schreibt der Obersielrichter Geehlt Noosten im Juli 2002.

Im Beitrag der Wikipedia über die Sielacht stehen auch schöne Dinge wie die Tatsache, dass „der Fürst kein Recht an Deich oder Siel“ hat sowie, noch schöner, dieses: „Der Sielacht steht der Sielrichter vor. Die Wahl erfolgt fast demokratisch. Das Stimmgewicht richtet sich nach Anteil am zu entwässernden Land. So kamen die Sielrichter (wie auch die Deichrichter) aus den angesehensten (und reichsten) Familien.“

Hilgenriedersiel

Hilgenriedersiel

Ganz ehrlich: bis 2021 wusste ich nicht, dass es Hilgenriedersiel gibt. Und das, obwohl ich 1951 in Norden geboren wurde und dort die ersten Lebensjahre komplett gelebt und danach immer mal wieder Ferienzeit verbracht habe. Ist Hilgenriedersiel deswegen zu vernachlässigen? Keineswegs: es gibt sogar einen eigenen Beitrag! Ausgleichende Gerechtigkeit, oder?

Neßmersiel

Nessmersiel

Neßmersiel ist, um das mal etwas weltmännisch zu formulieren, das Tor zur Insel Baltrum. Denn vom Hafen aus ist man mit der Fähre in 30 Minuten drüben auf der Insel. Das ging nicht immer so flott, denn den Fährhafen gibt’s erst seit 1969/70 – früher® wurde Baltrum von Norddeich aus angefahren (was eine schöne lange Dampferfahrt bedeutete).  Ein (funktionierendes) Siel gab es von 1600 bis 1953, einen Hafen am Siel auch – und ein Fährhaus, was jetzt ein recht akzeptables Restaurant beherbergt.

Was fliegt denn da?Ein wunderschönes kleines Kapitel des großartigen Buchs „Trampelwege zu Erlebnispfaden“ ist gegenüber vom Hafen aufgeschlagen – der Abstecher lohnt sich. Der Salzwiesen-Erlebnispfad am Neßmer kanalisiert sozusagen die touristischen Massen (wir trafen im Juli drei Familien) und hält sie von den schützenswerten Salzwiesen fern. Es gibt viele Erklärtafeln und noch mehr Vögel, von denen der Säbelschnäbler den lustigsten Namen hat und man vor sich hin spazierend gerne darüber philosophieren kann, ab wann Nonnengans zu den politisch unkorrekten Bezeichnungen gehören wird.

Neßmersiel – Unter MöwenEin nicht nur hier, sondern mittlerweile an den anderen Sielorten auch zu beobachtender noch relativ junger Trend der Landgewinnung sind die Sandstrände. Weil Urlaub am Meer nur mit Schlick öde sind, wird also mehr oder weniger feiner weißer Sand aufgespült, damit deutsche Burgenmentalität zur nötigen Abgrenzung in Freiheit machbar ist. Auch chic: wer auf die Insel will, muss sein Auto am Festland parken – erstens ist Baltrum autofrei und zweitens würde da, wenn jeder seine Karosse mitnähme, schon aufgrund der Blechmenge Dauerstau herrschen. Möwen und die anderen Fluggenossen scheinen sich einen Spaß draus zu machen, die parkenden Autos auf ihre Art zu verschönern. Das findet nur herrlich, wer nicht da parkt…

Dornumersiel/Westeraccumersiel

Dornumersiel

Die Grenzen sind fließend – oder gar nicht mehr so richtig da: wo endet Dornumer- und wo beginnt Westeraccumersiel? Egal, wer braucht schon Grenzen? Zumal die beiden Siele 1653 nebeneinander gebaut wurden, nachdem die St.-Peters-Flut am 22. Februar 1651 das alte Siel (wie wohl die ganze Gegend) zerstört hat. Und seit Juli 1972 sind sie eh ein Ort, weil Westeraccumersiel zu Dornumersiel kam.

Dornumersiel CampingDer Hafen zeigt das Bild, das die neuen Küstenbadeorte eint: kleiner geschützter Hafen mit Platz für die Fähre zur vorgelagerten Insel plus Sportboote und ggf. Fischkutter. Auf einem Deich ein Nullachtfuffzehnbetonklotz, der Restaurant oder Schnelimbiss beherbergt, dahinter angelandeter/herangekarrter Sand, weil die Touris das erwarten. Der Campingplatz ist eine Betrachtung wert, zeigt er doch, wie wichtig Urlaubern aus dem Ruhrgebiet (das traditionell das Haupteinzugsgebiet für die ostfriesischen Küstenbadeorte und Inseln ist) Individualität und Platz ist. In einem sehr lesenswerten Text (gefunden hier) schreibt Axel Heinze:

Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts änderte sich die Situation grundlegend. Die Menschen in den industriellen Ballungsgebieten wollten Urlaub machen. Die Ziele mussten erreichbar sein, es durfte nicht zu teuer sein, sie mussten einen Erlebnis-und Erholungswert besitzen. Für das Ruhrgebiet erfüllte die ostfriesische Küste mit ihren Sielhafenorten alle diese Bedingungen. Die Ostfriesenwitze erhöhten den Bekanntheitsgrad der Region rapide. Vor Ort reagierte man darauf. Zunächst wurden die Darren abgeschafft, denn ihr Geruch konnte jedem Gast den Urlaub völlig verderben. Neben jedem Sielhafen wurde ein Strand künstlich aufgespült, denn Kinder wollen im Sand spielen. Es wurden Schwimmbäder gebaut, damit man auch zu Zeiten von Niedrigwasser ein Badevergnügen haben konnte. Die Unterbringung der Gäste erfolgte in möblierten Zimmern mit Frühstück, später dann in ‚Ferienwohnungen‘. Die lokale Gastronomie passte sich den Anforderungen der Gäste an. Die Krabben mutierten vom Hühnerfutterzuschlag zur Delikatesse. Den Gästen wurden Wattwanderungen und Kutterfahrten zu dem Seehundsbänken angeboten. Das Ansehen des Seehundes wandelte sich von der Jagdbeute zum Publikumsliebling.

Die Darren, muss man vielleicht noch erklären, waren kohlebeheizte Schuppen, in denen Krabben getrocknet wurden, um dann als Hühnerfutter-Zuschlag verkauft zu werden. Der Geruch: unbeschreiblich. Also: es stank gewaltig zum Himmel.

Bensersiel

Bensersiel

1867 gab es 107 Pferde, 214 Stück Rindvieh und 234 Schafe in Bensersiel (Quelle: Historische Ortsdatenbank der Ostfriesischen Landschaft). Im Jahre 2012 wurden in Esens/Bensersiel 135.302 Gäste und 834.504 Übernachtungen gezählt (Quelle: Wikipedia). Viele Urlauber schätzen den großen Campingplatz am Sandstrand. Bei gutem Wetter gibt es dort kaum einen freien Strandkorb (Quelle: NRD). Wir fanden den Reiz der Großparkplätze mit anstehenden Autos, das Riesenrad und den allgemeinen Trubel nicht des Haltens wert, und auch den Verlockungen der Gastronomie (0,2 l Rotwein lieblich 3 €) vermochten wir zu widerstehen.

Bensersiel ist auch Fährhafen zur Insel Langeoog.

Neuarlingersiel

Neuharlingersiel

Der Wikipedia entnehme ich, dass „Harlingersiel … immer mehr ins Landesinnere rückte“, was ich mir sehr schmerzhaft sowohl für das Dorf, seine Häuser und deren Bewohner vorstelle. Wahrscheinlich ist es aber so, dass Harlingersiel immer da blieb, wo es war und lediglich seine Funktion als funktionierendes Siel verlor, weil zum Meer hin durch Eindeichungen immer mehr Land gewonnen wurde. Bis 1693 lag Harlingersiel am Meer und hatte, lese ich, sogar einen „blühenden Handelshafen mit vielen Gewerken“. Neuharlingersiel entstand nord-westlich mit neuem Siel und neuem Hafen – beides nun auch nicht mehr ganz wirklich am Meer, sondern schon wieder einen gemütlichen Sonntagnachmittagsspaziergang entfernt. Das Altharlinger Sieltief verbindet die beiden Orte.

Carolinensiel

Carolinensiel

Als ich ein kleiner Junge war, gehörte Carolinensiel nicht zu den Zielen für Familienausflüge. Wenn man sich im heute schnieke zurecht gemachten Touristenort die Infotafel zum Hafen von Carolinensiel ansieht, ahnt man, warum: der Hafen sah nach nichts aus und war völlig verschlickt. Aber: die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen – jetzt isses da richtig chic, mit Erlebnismuseum, Sielhafenmuseum und – ach, ja: eigentlich dem ganzen Hafen als Museum. Wer baden will, ist schon wieder Landgewinnungsopfer und muss rund einen Kilometer weiter zum Meer, wo man in den 1960er Jahren durch Aufschüttung von 20.000 m³ Sand einen Badestrand anlegte und wo auch die Fähre nach Wangeroooge ablegt.

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