Ich bin ein Flüchtlingskind. Und, wenn man so will, ein Mischling. Man sieht’s nicht so deutlich, aber natürlich stecken die Gene zweier weit entfernter Landschaften in mir. Es gibt ernst zu nehmende Menschen, die sagen: das wurde ja auch höchste Zeit, dass der Region mal etwas Frischblut zugeführt würde – aber das war wohl eher ein Scherz. Kein Scherz war, dass meine Mutter mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter nach dem Krieg auf der Flucht aus dem Osten waren. Sie waren unterwegs von Schneidemühl, früher (und heute) Piła, in den Westen, auf der Flucht vor der Roten Armee. Angekommen sind sie (ich weiß nicht genau wann) nach über 800 Kilometern in Ostfriesland, in der Stadt Norden.
Die Details dieser Flucht sind so traurig und unmenschlich wie die Details fast jeder Flucht. Die Angst im Nacken, unwürdige Zustände – und eine in jeder Hinsicht ungewisse Zukunft.
In Ostfriesland (und anderswo im Westen) war man not amused über die Neuen. Sie waren – ich bin geneigt zu schreiben: natürlich – nicht wirklich willkommen. Eindringlinge in der gemütlichen Gemeinschaft der Alteingesessenen, andere Sprache, andere Ansichten, andere Sozialisation. Und auf der Flucht – in der Hoffnung, angekommen zu sein. Der Groll der Einheimischen lag vielleicht auch daran, dass die Fremden nicht in ein Erstaufnahmelager (oder wie immer diese Einrichtung heißen könnte) kamen, sondern privat zwangseinquartiert wurden. Will heißen: Die drei Frauen aus dem fernen Osten erhielten ein Zimmer in einem Haus einer Familie in Ostfriesland. Fremde unter Fremden, tatsächlich auch Frauen untereinander: Die Männer waren im Krieg gefallen oder in die Gefangenschaft geraten.
Die Einheimischen fremdelten, aber sie pöbelten nicht. Und es gab sowas wie eine langsame Integration. Zum Beispiel, als eines Tages der Bruder jener Frau, die die drei Flüchtlinge bei sich im Haus hatte, aus dieser Gefangenschaft kam. Da sahen sich dann mein Vater und meine Mutter das erste Mal – es war sowas wie Liebe auf den ersten Blick, geheiratet wurde bereits am 6. September 1947. Keine guten Zeiten, nach dem Krieg, immer noch nicht. Aber kein Grund, nicht zusammen zu halten, immer ein bisschen mehr. Die Mutter meiner Mutter (meine Omi) freundete sich mit der Schwester meines Vaters an – sie wurden das, was man heute wohl beste Freundinnen nennt und besuchten sich auch dann noch regelmäßig, als sie schon lange nicht mehr in einem Haus wohnten. Die Oma meiner Mutter (also meine Ur-Oma) verstand sich prima mit den drei Frauen im Haus gegenüber, die alle nur die drei Tanten nannten.
Natürlich klingt das, so verknappt und aus der Distanz von 70 Jahren geschrieben, runder und leichter, als es wahrscheinlich war – aber vom Ergebnis her ist es doch so, dass Leute mit ganz anderer Sozialisation und in nicht gerade guten Zeiten kamen – und doch aufgenommen und letztlich integriert wurden. Wenn aus Fremden Freunde werden sollen, dann gehört vor allem eins dazu: das Wollen. Und vielleicht noch eins: Menschlichkeit, im ganz simplen Wortsinn.
Und damit sind wir im Hier und Jetzt. Wieder gibt es Flüchtlinge. Nicht so viel wie damals: „Bis zu 14 Millionen Menschen mussten ab 1945 ihre Heimat in Ost- und Ostmitteleuropa verlassen – die nun polnischen Gebiete jenseits von Oder und Neiße, Ostpreußen und die kulturell gemischten Randgebiete von Böhmen und Mähren, nun Teil der Tschechoslowakei, außerdem Ungarn, Jugoslawien und Rumänien. Es war die größte Völkerwanderung seit der Antike.“ (Quelle). Und sie trafen auf ein selbst nicht prosperierendes Land. Anders als heute: da kommen (so die neueren Prognosen) vielleicht 800.000 Flüchtlinge, und sie kommen in eins der reichsten Länder der Welt.
Aber wie werden sie manchmal empfangen?
Mit Hass, mit Ablehnung, mit Tätlichkeiten bis hin zu Brandstiftung und Mordversuchen. „Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte“ hat Max Liebermann 1933 am Tag der Machtergreifung der Nationalsozialisten gesagt. Wenn ich die unwürdige Behandlung von Hilfe suchenden Menschen an vielen Orten sehe, muss ich an diesen Spruch denken.
Aber es gibt ja auch die vielen, die sich um die Flüchtlingen kümmern – in bewundernswerter und manchmal aufopfernder Weise. Lokal und auch überregional. Und es gibt Aktionen im Netz, wie zum Beispiel Blogger für Flüchtlinge – eine Initiative von Nico Lumma, Stevan Paul, Karla Paul und Paul Huizing. Gemeinsam wollen sie die Flüchtlingshilfe unterstützen – gerne machen wir da mit und empfehlen zumindest den Besuch ihrer Webseite – gerne auch die der Spendenseite. Die Spenden werden (mittlerweile) bundesweit verteilt.
[Update 7. September] Mittlerweile ist auch das Projekt „Wein gegen Rassismus“ vom Winzer Lukas Krauß und der Agentur medienagenten online. Ich unterstütze sie nachdrücklich, denn „Haltung und Gesicht zeigen – gegen Fremdenhass und rechte Parolen“ ist nötig und bedarf keinerlei „…aber“-Einschränkung.
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