Schon zur Mittagszeit des Heiligen Abends war die Spannung zu spüren. Die Wohnzimmertür war geschlossen, die eh schon matte Glasscheibe in der Tür war mit einem Tuch verhängt. Ich durfte nicht mehr in den Flur, denn von dort hätte ich ja womöglich, eventuell einen Blick ins Wohnzimmer werfen können, wenn die Tür mal einen Spalt aufgehen sollte. Mir war anfänglich überhaupt nicht verständlich, was dort passiert. Es soll – so sagte man mir – das Christkind irgendwann im Laufe des Nachmittags in diesem Raum sein, um dort die Geschenke abzulegen …
Der Nachmittag verging im Schneckentempo … hätte ich damals auch nur die geringste Ahnung von der Relativitätstheorie gehabt und von verschiedenen Geschwindigkeiten, mit denen die Zeit laufen kann, so hätte ich dieser Theorie sofort und ohne zu zögern zugestimmt. Meine Mutter hatte ihre liebe Mühe, mich zu beschäftigen, denn all die anderen Dinge, mit denen ich so gern spielte, hatten irgendwie an Attraktivität verloren. Merkwürdigerweise war – obwohl doch ein Feiertag war – mein Vater kaum zu sehen …
Irgendwann gab es Kaffee und Kuchen, das heißt für mich nur Kuchen, aber es war eine kleine Ablenkung vom „Warten aufs Christkind“. Es wurde draußen dunkel und die Zeit schlich langsam weiter …
… bis, ja bis ein zartes Glöckchen läutete, ja es war mehr ein Erahnen eines Glockenklangs, aber es war da. Das sollte das Zeichen gewesen sein, dass das Christkind nun da gewesen sei. Und statt eines Freudenschreis und einem sofortigen Aufspringen war mir eher mulmig zumute und das Herz muss ungefähr die Höhenlage meiner Knie gehabt haben (damals, als die Knie noch weiter unten waren als heute …). Plötzlich war auch mein Vater da und so gingen wir – oder sollte man es eher „schreiten“ nennen? – Richtung Wohnzimmertür. Und siehe da: sie war geöffnet … und der erste Blick ging zur einzigen Lichtquelle des Raumes, zum Weihnachtsbaum. Und überall lagen kleine und große Pakete: unter dem Weihnachtsbaum, auf dem Tisch und auf dem einen oder anderen Sessel. Über die Jahre hatte es sich eingebürgert, dass das Christkind die Verteilung der Pakete an die verschiedenen Stellen sehr bewusst vornahm und dabei bereits an die Empfänger dachte. Die meinigen lagen – wie der Zufall es so wollte – unter dem Weihnachtsbaum. Doch bevor ich eines der Pakete in die Hand nehmen durfte – und irgendwie hemmte mich etwas, sofort dorthin zu gehen –, haben wir Weihnachtslieder gesungen. In den ersten Jahren, an die ich mich zurückerinnere, haben wir zu dritt gesungen. Später, als ich verschiedene Musikinstrumente zu spielen gelernt hatte, war ich der Melodiengeber und wir haben auf diese Weise dem Christkind gedankt. Dann endlich durfte (und wollte) ich zum Weihnachtsbaum gehen und mit dem Auspacken der Geschenke beginnen.
Schon in den ersten Jahren, an die ich mich erinnern kann (ca. 1960), bis zu den letzten Weihnachtsfesten bereits mit Alexander und Ariane (ca. 2000) gab es immer das gleiche Umfeld. So stand für jeden ein Teller „Süßes“ bei den Geschenken, meist mit selbst gebackenen Plätzchen der unterschiedlichsten Art. Meine Mutter verstand es auf das Feinste, Vanillekipferln, Berliner Brot, Spritzgebäck und ähnliches zu backen, die es dann ab dem Heiligen Abend gab. Nach der Bescherung, die nie eine Bescherung im unangenehmen Wortsinn war, gab es Abendessen im Esszimmer. Und auch hier gab es über all die Jahre feste Konstanten (doppelt gemoppelt, aber zur Betonung der Stärke der Tradition unbedingt erforderlich): am wichtigsten war der Heringssalat, der in einer extrem großen Schüssel angerührt worden war und normalerweise – das heißt bei Verzehr zum Frühstück und zum Abendessen – etwa bis Neujahr ausreichte. Außerdem gab es eine unglaublich feine Sülze mit einer süßen Senfsauce.
Nach dem Abendessen begab sich die gesamte Gesellschaft wieder ins Wohnzimmer und verbrachte den restlichen Abend mit Geschenke genießen, miteinander reden und trinken. Über die Jahre veränderte sich an diesem Ablauf nur wenig. Das Warten auf’s Christkind wurde weniger dramatisch, denn es gab ja dann tatsächlich einiges zu tun … und die Teilnehmerzahl wuchs, erst durch Heirat und schließlich durch Geburt(en), aber immer bleibt das Geräusch des kleinen Glöckchens im Ohr und es sagt: das Christkind war da.
[Gastbeitrag von Manfred Curbach]
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