Das (un)berühmte Dorf hinterm Deich

Hilgenriedersiel

Lang ist die Liste der Orte in Ostfriesland, die auf -siel enden. Von einigen hat man vielleicht auch schon gehört, obwohl man (noch) nie vor Ort war: Greetsiel, beispielsweise. Aber Hilgenriedersiel? Ganz ehrlich: das kannte ja nicht einmal ich, obwohl ich ja gar nicht so weit weg davon im damaligen Kreiskrankenhaus von Norden geboren wurde – das lag (auf dem Gebiet eines ehemaligen Luftschiffhafens) in Hage. Hilgenriedersiel ist ungeachtet meines ignoranten Nichtwissens aber eine Berühmtheit, denn hier rühmt man sich, „die einzige Naturbadestelle an der ostfriesischen Nordseeküste“ (hier und anderswo) zu haben.

Naturbadestrand HilgenriedersielNaturbadestelle: das klingt gut. Sogar der Stern hat im Mai 2018 – vielleicht ohne jemals vor Ort gewesen zu sein, wer weiß das schon so genau? – in seiner Liste der „50 Orte, die zum Verweilen einladen“ den Strand recht genau verortet: „irgendwo zwischen Himmel und Wasser“. Aha. Wer jetzt irritiert in der Luft den Strand sucht, hat allerdings schon verloren, denn er befindet sich, wie man es gewohnt ist, brav an Land. Legt man sich hin, sieht man den Himmel, steht man wieder auf und hat Glück, sieht man das Wasser. Wobei es eigentlich nicht Glück ist, sondern der streng geregelte Ablauf von Ebbe und Flut, der entscheidet: Watt oder Wasser.

Das Wattenmeer ist ja eine wundersame Landschaft, Weltnaturerbe seit 2009 und erfreulicherweise nicht zuletzt dadurch unter etwas strengerer Beobachtung. Es gibt, abgetrennt und wohl auch weitgehend von den Menschen respektiert, im Nationalpark Wattenmeer die Ruhezone I – die ist weitgehend für Menschen gesperrt und darf nur auf markierten Wegen betreten werden. In der Ruhezone II ist Betreten erlaubt, weswegen man auch an den Strand von Hilgenriedersiel gelangt. Den etwa 400 Meter breiten Hellerabschnitt erreicht man auf einem schmalen Weg (Heller nennt man die Salzwiesen vor dem Deich, die schon mal bei hohen Wasserständen überflutet werden).

Naturbadestrand HilgenriedersielWir erreichten die Naturbadestelle zwei Stunden nach Niedrigwasser. Das heißt: Man sah das Wasser kommen, aber es war noch nicht da. Also konnte man sehr genau den Bestandteil Natur von Naturbadestelle bewundern: Schlick. Dunkle Matsche. Zierlich belebt durch Queller, deren lateinischer Name Salicornia schon andeutet, dass diese Pflanze gut mit Salz kann. Wobei kann nicht wirklich richtig ist, denn Queller braucht das Salz. Man kann Queller übrigens essen – und muss nicht mal salzen, wie praktisch! Ob wir an diesem Strand hätten baden wollen, wenn das Wasser denn da gewesen wäre? Hm. Tagsdrauf, als Wasser da war, konnten wir es wieder nicht testen, weil da ein Regenschauer für ungemütliche Rahmenbedingungen sorgte. Aber auch ohne zu baden fanden wir’s schön und beschaulich, so mit dem Blick übers Wattenmeer nach Norderney und dem Leuchtturm dort als Blickfang.

Kuh schwarzbuntDer Weg von Hilgenriedersiel zum Strand ist rund 1,5 Kilometer lang, kann aber sehr lange dauern: es gibt ja so viel zu sehen! Vom alten Deich, hinter dem sich die paar Handvoll Häuser in traditioneller Klinkerbauweise locker ducken, bis zum neuen Deich kann man Kühe studieren. Das Schwarzbunte Niederungsrind hatte bei unserer Besichtigungstour gerade Ruh- und Wiederkauphase, da wollten wir nicht großartig stören. (Warum die Kühe schwarzbunt heißen und nicht schwarzweiß? Und ist das vielleicht gar kein Schwarzbuntes Niederungsrind, sondern ein Holsteiner? Keine Ahnung…)

Schafe am DeichAm von Land aus gesehen zweiten Deich mähte es uns lautstark entgegen: Schafe weiden auf dem Deich. Sie sorgen für kurzes Gras und trampeln obendrein wunschgemäß auf dem Deich rum, so dass der verdichtet wird. Außerdem, lese ich auf der Info-Tafel, „bewirkt der goldene Tritt ihrer Hufe eine verstärkte Bestockung (Verzweigung) der einzelnen Graspflanzen“. Trotz des unruhigen Mählärms strahlen diese vielen Schafe eine wunderbare Ruhe aus. (In reißerischen Reiseberichten würde jetzt sicher stehen: unzähligen Schafe – nur weil die Kollegas alle nicht mehr bis drei zählen können…)

Sonnenuntergang bei HilgenriedersielDer Weg ist das Ziel, hier mehr noch als anderswo. Links und rechts vom Weg fühlen sich viele Tiere wohl, weil Menschen da nicht hineinkommen. Was man wissen sollte: es sind nicht nur Vögel, sondern auch rund 2.000 Insektenarten. Das könnte einem unter Umständen bei der Besinnlichkeit stören, und auf jeden Fall sei Radfahrern geraten, den Mund zu halten – es sei denn, sie sind auf Beifang aus. Der Strand – laut Hinweisschild 400 Meter breit, von denen wir laut GPS-Tour-Aufzeichnung 638 Meter gegangen sind – ist auf jeden Fall ein guter Standort für Sonnenuntergangfotografen. Hier muss man sich nicht ärgern, dass Wolken in letzter Minute verhindern, die im Meer versinkende Sonne zu fotografieren: immer liegt da Norderney vor. Aber mit dem Leuchtturm und dem (nicht garantiert, aber wahrscheinlich) einen oder anderen Schiff ergeben sich auch prima Schnappschüsse.

Siel-Gedenkstein 7094Da wir Zeit haben, aufs Watt zu schauen, können die Gedanken sich auf Zeitreise begeben. Früher®, also so vor rund 150 Jahren, war Hilgenriedersiel nämlich ein wichtiger Verkehrspunkt auf der ostfriesischen Landkarte. Der Deich, den ich eingangs den alten genannt habe, war seit 1570/76 der tatsächliche Deich, das Wasser reichte also bis dahin. Und ein Siel gab es tatsächlich auch, um die Marsch Richtung Meer zu entwässern. Ein arg in die Verwitterungstage gekommener Gedenkstein zeigt, wo das Siel seit 1576 und bis 1925 gestanden hat. Eine Postkutsche fuhr von hier aus übers Watt nach Norderney – mit Post und mit Passagieren. Im Gasthof, der nicht nur Zimmer für die Übernachtung anbot, sondern auch einen Tanzsaal fürs Vergnügen vorhielt, konnte man gegebenenfalls auf die Ebbe warten – denn nur bei niedrigem Wasser gelang es, halbwegs trockenen Hufes zwischen den Prielen hindurch zu manövrieren. Eine Stunde Fahrtzeit war einkalkuliert – was schon ganz ordentlich ist. (Eine Karte mit dem Kutschweg gibt’s bei Petra Wochniks Portal Ostfriesland reloaded.)

Hilgenriedersiel1875 wurde der Personenverkehr übers Watt eingestellt – einerseits, weil es immer wieder mal zu Unfällen kam, andererseits aber auch, weil die Schifffahrt ab dem nahe gelegenen Norddeich nach Norderney attraktiver wurde. Aus dem Gasthof der Familie Poppinga wurde eine Molkerei und nach dem Ende der Molkereigenossenschaft gab’s vorübergehend Futtermittel und Ferienwohnungen. Ein Teil des Gebäudes ist abgerissen, der Schornstein steht noch. Das höchste Gebäude von Hilgenriedersiel ist keineswegs das attraktivste – die anderen, kleineren und von Gärten umgebenen sind da schon pittoresker.

 

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