Groteguts kulturträchtige Zeitreisen in Sachsens Vergangenheit

Ausstellungseröffnung in der Mälzerei am 24. August 1997

Untitled

Einhart Grotegut kann nicht zeichnen. Das hat er schriftlich. Als er mir in seinem Atelier – zu dem später noch etwas zu sagen sein wird – die Geschichte von dem Unvermögen erzählte, hatte ich fast den Eindruck: er ist stolz darauf. Denn anders als diejenigen, die ihn da nicht nur einmal, sondern immer wieder zurückwiesen und ihm Unvermögen bescheinigten, ist Grotegut heute präsent.

Die Herren vom Verband Bildender Künstler haben sich also geirrt. So etwas kommt vor. Aber vielleicht war es ja ganz gut, dass sie Grotegut zurückwiesen: Da konnte er sich erstens reiben, was ja häufig zu spannenderen Ergebnissen führt als Arbeit im Brei der Lobhudelei – und zweitens hat Grotegut jetzt ein Dokument, das sich vielleicht in Fragmenten und übermalt oder von Schichten aus Staub und Asche zu einem Kunstwerk wird!

Einhart Grotegut malt und zeichnet seit 1975. Da war er 22 Jahre alt und Student der Architektur an der TU Dresden. In den Jahren zuvor hatte er in seiner Heimatstadt Königstein im Klub Junger Historiker den Grundstein zu dem gelegt, was ihn Jahre später in seinen Bildern und Skulpturen so unverwechselbar machen wird: Die Verbindung von Geschichte mit Kunst.

Im Architekturstudium erhielt Grotegut die solide Ausbildung, die neben dem kreativen Geist unabdingbar ist, um zu Arbeiten wie den hier ausgestellten zu kommen. Der Dresdner Maler Hans Kinder und der Künstler-Architekt Jürgen Schieferdecker prägten ihn und seine Arbeiten.

Die frühen Groteguts, von denen hier unter anderem die Skizzen von Ausgrabungen beim Bau eines Heizkanals in seiner damaligen Wohngegend an der Dresdner Annenkirche zu sehen sind, zeigen den akkuraten Zeichner, der wissenschaftlich exakt beobachtet und wiedergibt. Er zeichnet und er beschreibt, aber so wie er es arrangiert ist das weit entfernt von der technokratischen Nüchternheit, mit der man so etwas ja auch angehen könnte. Die Skizzen lassen in Wort und Bild – Grotegut kann nämlich sehr wohl zeichnen! – erahnen, wieviel Faszination diese Untersuchungen des Aushubs auf den Künstler hatten. Mit Liebe zum Detail und mit einem für eine Dokumentation weit über das Notwendige herausgehenden ästhetischen Empfinden entstanden (und entstehen manchmal heute noch) Kunst-Blätter.

Einhart Grotgut mag diese Werke noch, auch wenn sie knapp zehn Jahre alt sind. Das ist gut so, denn wenn er einmal genug Abstand von den Dingen hat und sie sich aus der Distanz der Zeit ansieht, kommt es schon einmal vor, dass er sich sagt: „Das war gut damals, aber es ist heute besser, wenn ich daran weiterarbeite!“ Und was passiert, wenn Einhart Grotegut mit seinen eigenen Werken weiterarbeitet, das kann man sehen, wenn man sich den neueren Arbeiten zuwendet. Man sieht Collagen aus Dingen des Alltags, bedeckt mit Erden.

„Das soll Kunst sein? Das ist doch nur Matsch!“ befand meine pubertierende Tochter kürzlich und löste damit eine lang anhaltende und sehr kontrovers geführte Diskussion aus. Matsch ist nämlich wirklich nicht die richtige Bezeichnung für das, was Groteguts Bilder so unverwechselbar macht, obwohl ein Erlebnis mit richtigem Matsch als Auslöser für diese Art zu arbeiten genannt werden kann: Grotegut war dabei, als die Baugrube des Dresdner Hofes an der Frauenkirche ausgehoben wurde. Ein heftiger Sturzregen machte die ihn umgebende Erde fast flüssig – das Bild fließender und sich mischender Erden ließ ihn nicht los. Und als nach dem Regen die Erde aufbrach, sich Humus und Lehm in Krümeln und Brüchen zeigten, da hatte er sein Aha-Erlebnis: Kulturerde mit Fundstücken, unterschiedlichste Materialien wie Pferdehaare oder Seiten aus alten Büchern, Scherben oder alte Münzen – es gibt scheinbar nichts, was nicht Eingang findet in Groteguts kulturträchtige Zeitreisen in Sachsens Vergangenheit.

In seinen Bildern, die aus der Entfernung grafisch harmonisch wirken, finden sich bei lohnender näherer Betrachtung die Schichten wieder, die Archäologen bei ihren Grabungen fasziniert und die Bauherren in die Verzweiflung treibt: Je tiefer man kommt, desto mehr entdeckt man. Gefundene Kleinigkeiten können große Geschichten erzählen, man muß sich nur durchwühlen und die Dinge auch erkennen. Wenn Grotegut dann für seine Bilder wieder collagiert, was die Zeit de­col­la­giert hatte, macht er es dem Betrachter allerdings wieder nicht leicht, denn auch Grotegut arbeitet mit den Schichten. Erde verdeckt Gezeichnetes, zwischen aufgebrochenen Krumen erblickt man Wortfetzen. Runen – jene frühen Schrift-Zeichen – und freie runenähnliche Schöpfungen überdecken Bildteile, manchmal ausgerechnet die spannendsten Teile alter Rechnungen.

Der Blick für das Alltägliche paart sich bei Grotegut mit einem fast englisch zu nennenden Humor. Er kann zwar sehr ernst gucken (vor allem auf gestellten Fotos hat er immer etwas sehr Seriöses), aber in Wirklichkeit ist der Nach-Denker ein Mensch, der gerne und herzhaft lacht. Sein hintergründiger Humor findet sich in etlichen Arbeiten wieder. Wer außer Grotegut könnte zwei Wacholderbeeren zum zentralen Thema einer Arbeit machen: Eine Ost-Wacholderbeere des VEB Waldheim trifft eine West-Wacholderbeere der Waldheimer Gewürze GmbH. Man schmunzelt, denn man versteht den Witz: Die Verpackung ändert sich – aber was dahinter steckt, ist allemal gleich.

Der leidenschaftliche Sammler, der nichts wegwerfen kann, kann noch so aufrichtig sein – man erkennt ihn am gebeugten Gang. Denn um an viele der verarbeiteten Fundstücke zu kommen, muß sich Grotegut oft bücken. Die Kleinode liegen herum: am Wegesrand, am Elbufer, auf Dachböden und in Gewölbekellern. Immer häufiger aber arbeitet sich Grotegut in die Erde und somit in die Vergangenheit ein. Er gräbt sich durch die Schichten, aber anders als ein Maulwurf ist er nicht blind. Er sieht und – dies vor allem – er versteht zu deuten.

Wohin mit all dem Gesammelten? Ich hatte ja versprochen, noch ein Wort zu Groteguts Atelier zu sagen. Stellen Sie es sich so vor, wie Sie sich einen Raum vorstellen, in dem aus der Elbe geborgene und anderswo gefundene alte Schuhe neben Farbe stehen, in dem Erden neben Bindemitteln lagern, in dem aus einem verstaubten Kasettenrecorder Musik kommt, in dem Gußeisernes neben Seidenpapier lagert, in dem Sie irgendwo eine Pfeife und etwas Tabak entdecken, in dem stapelweise alte Bücher und Zeitschriften darauf warten, Teil eines neuen Ganzen zu werden. Sie können sich das nur sehr schwer oder vielleicht gar nur als ein ziemliches Chaos vorstellen? Nahe dran – aber es fehlen in Ihrem Bild noch die neuen Arbeiten. Immer sind es drei oder vier dieser ja nicht gerade kleinen Bilder, die Grotegut beschäftigen.

Eigentlich wäre er ja gerne viel häufiger in dieser Werkstatt – aber auch wenn er es beklagt, daß er es nicht ist, so hat es doch etwas Gutes: Grotegut arbeitet vor Ort. Er forscht, er nimmt auf, er findet. Er riecht den Moder alter Erde und bekommt so die Inspiration für neue Werke. Außerdem profitieren wir alle auch davon, denn wenn Sie einmal nach, sagen wir: Burg Stolpen oder Schloß Weesenstein kommen, dann erleben Sie, dass sich aus diesem Dreiklang gelernter Architekt – geschichtsinteressierter Mensch und nimmermüder kreativer Künstler ganz wunderbare Gestaltungsideen entwickeln. Den schönsten Ausstellungsräumen dort und anderswo merken Sie die grotegutsche Handschrift an.

Die Liebe zur Arbeit an und in Räumen bemerkt man auch in dieser Mälzerei, wo Einhart Grotegut die gezeigten Werke zu einem Kunstgenuß zusammengestellt hat. Das alte Gemäuer und die Schichten klingen zusammen. Genießen Sie den Klang!

Rede zur Ausstellungseröffnung im Malzhaus Kamenz am 24. August 1997

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