„Zwischen Nietenhosen und Pullover, auf halbem Weg zwischen Oberschenkeln und Busen, ein rundumlaufender Hautstreifen, aufblitzend beim Bewegen, beim Bücken, beim Beat. In der erotischen Sprache, wie alle Sprachen gelernt, ist das seit einigen Jahren die große Modevokabel ohne Namen.
War alles schon mal da, sagt einer und erinnert sich an jugendbewegte hochgebundene Blusen. Nichts Besonderes, sagt der andere und zeigt auf die Landkarte der Nerven: Kreuzgegend und Solarplexus, reizungsintensive Hautpartien, streichelgünstig. Blödsinn, sagt der dritte und denkt an sein Rheuma: die werden sich ganz schön erkälten. Die Frau als Ware im Spätkapitalismus! wischt einer dies Palaver weg: die Profitrate ist zur Pulloverlänge umgekehrt proportional, und Moden sind anti-emanzipative Manipulationen im ökonomischen Interesse des Kapitalverwertungsprozesses.
Vermutlich sind alle vier Argumente zutreffend, aber weder einzeln noch addiert der Schlüssel zum Phänomen. Gesellschaftliche Lernprozesse benötigen und erzeugen Sprachen und ermöglichen Kommunikation. Wir lernen viele Sprachen, und das Hutabnehmen ist eine Vokabel und das wütende Betätigen der Lichthupe und das Überreichen von Rosen, und solche Vokabeln können veralten wie Wörterbuchvokabeln. Bedeutungen wandeln sich, denn das Material, aus dem die Sprachen gemacht sind, enthält nicht schon die Bedeutung.
Viele Zeitgenossen, immer noch ans „Natürliche“ glaubend, geben diese Theorie zu, wenn es sich um Buchstaben handelt, werden schwankend bei Lauten und protestieren, wenn es um Körperteile geht – das zumindest sei, meinen sie, eine ewige, seit den Neandertalern unveränderte Ausdrucksweise: Busen bleibt Busen.
Aber da das Rückendekolleté oder der ver- und enthüllte Fuß oder das sprachschwierige Gesäß eine erotische Bedeutung haben und wieder verlieren konnten, eine Liste, die der Modehistoriker leicht verlängern kann, sollte die These nicht allzu abwegig sein:
Wir sehen einer Bedeutungswandlung zu. Da der Busen nicht ewig halten konnte und durch die Medien verbraucht wird, sagt und versteht man, daß man jung und anfaßbar ist, durch den erotischen Äquator: vom Kreuz des Südens zum Nabel des Südens.
Jürgen Henningsen“
Dieser Text erschien in Westermanns Pädagogischen Beiträgen, irgendwann zwischen 1970 und 1974 – in einer von JH verfassten Publikationsliste fand ich es nicht, abgetippt ist es aus dem 1974 erschienenen Sammelband „ZINKEN & ZEICHEN und Gags und dergleichen in Minitexten, bezogen auf Pädagogenalltag und Lernen. Was stört, entfernen; was bleibt, weiterreichen.
Jürgen Henningsen war mein Pädagogik-Professor – ein „pädagogischer Literat“ (Hermann Giesecke), der mein Denken und Schreiben sehr geprägt hat – und seine Texte sind die einzigen aus der Studienzeit, die ich auch noch 30 Jahre danach immer wieder gerne lese.
(Dieser Beitrag stand zuerst in meinem Blog Aufgelesen | Eine weitere schöne Erinnerung an JH von Edelgard Struss – im dort erwähnten Kabarett „Fortschrott“ spielte auch ich mit)
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