Ratten sind eine Plage, da können noch so viele Biologen und Verhaltensforscher über die Gelehrsamkeit und das nette Verhalten von Ratten schreiben. Und wenn wir, aufgeklärt wie wir sind, schon heute die Ratten nicht so recht leiden mögen – wie denn dann früher?
Genau: Da war es ein Hundeleben für die Ratten. Keiner wollte sie, und die Väter der Stadt gaben sogar Geld demjenigen, der die Ratten verjagt. Kein Wunder also, dass es (schon damals) Spezialisten gab, die sich aufs Rattenaustreiben verstanden. Ihr Werkzeug: Klein und unscheinbar, aber mit wunderlichem Klang. Eine Flöte, richtig gespielt, und der Zauber hatte ein Ende.
So ist es jedenfalls aus Hameln an der Weser überliefert. Dort erschien im Jahre 1284 ein Mann, der nach damaligen Verhältnissen auffällig gekleidet war – sehr bunt war sein Rock. Aber Künstler hatten schon immer etwas Merkwürdiges an sich, und da dieser Mann versprach, Spezialist in Sachen Rattenvertreibung zu sein, sah man über den vielfarbigen Rock hinweg. Und nicht nur das: Er werde sogar einen äußerst großzügigen Lohn erhalten, wenn er nur die Ratten aus der Stadt vertreibe! Sagten die Herren der Stadtverwaltung.
Da zog der Buntgescheckte eine Pfeife und spielte auf – und Ratten wie Mäuse kamen aus den Häusern und folgten dem Mann. Der zog durch alle Straßen der Stadt – und das Getier folgte ihm auf den Fuß. Bis zur Weser ging er und dann auch noch hinein. Die Sage erzählt dann, dass dort die Ratten ertranken (wozu Biologen und Verhaltensforscher sicherlich die eine oder andere Anmerkung zu machen hätten – aber solche Leute gab es ja damals nicht!).
Was dann in Hameln passierte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Menschen allgemein und die Politiker im besonderen: Wenn sie ein Zipperlein plagt, sind sie zu fast jeder Schandtat bereit und versprechen dies wie das. Sobald es ihnen aber wieder besser geht, erinnern sie sich an nichts mehr und schelten nette Gaukler wie den Flötenspieler mit dem bunten Rock. Genauso geschah es, der gute Mann bekam keinen Lohn und ging verbittert von dannen.
Sowas läßt sich kein noch so bunter Flötist gefallen. Heute würde er zur Gewerkschaft oder gleich vors Gericht ziehen und den ihm zustehenden Lohn einklagen. Das ist freilich dermaßen unspektakulär, dass wir und unsere Nachfahren sich nicht wundern dürfen, wenn später einmal keiner mehr Sagen aus heutiger Zeit erzählt, sondern alle nur noch stapelweise Akten aufarbeiten.
Doch zurück nach Hameln 1284: Am 26. Juni kehrte der Mann zurück und zog erneut die Pfeife. Diesmal kamen freilich keine Ratten (denen hatte er ja bereits den Garaus gemacht), sondern Jungen und Mädchen aus den Häusern. Spielend ging der Mann, der diesmal als Jäger mit gar schrecklichem Angesicht erschienen sein soll, durch die Straßen – und die Kinder folgten ihm durch die Stadt und heraus durchs Ostertor in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand.
130 Kinder der Stadt hatte das Schicksal getroffen – sozusagen alle, bis auf zwei Nachzügler. Doch von denen war einer blind und der andere stumm, so dass die nicht viel berichten konnten. Was wir wissen, verdanken wir einem Knaben, der zurückgelaufen kam, weil er seinen Rock holen wollte. Und die Mutter des Herrn Dekan Johann von Lüde, die hat es ebenfalls gesehen und nicht verhindern können – steht in einer Handschrift, die knapp hundert Jahre später verfasst wurde.
Dieser Kinderauszug aus der Stadt ist nicht nur in der Sage der Gebrüder Grimm überliefert, sondern außer in der erwähnten Handschrift auch im Stadtbuch. Der 26. Juni 1284 als Datum und die Zahl 130 als Zahl der Kinder sind so exakt, dass ja wohl was Wahres dran sein muss an der Rattenfängerei.
Fragt sich nur, was. Spekulationen gibt es viele – beispielsweise, dass es sich beim Auszug der Kinder um eine Abwerbung gehandelt haben soll: Der Rattenfänger als Werber von jungen Leuten für die Besiedlung des Sudetenlands? Dafür spricht, dass die Gebrüder Grimm in ihrer Sage schreiben: „Einige sagen, die Kinder seien in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.“ Aber ein wirklicher Beweis ist das nicht…
Was es allerdings gibt, sind Touristenspektakel: Jeden Sonntag von Mitte Mai bis Mitte September spielt nämlich in Hameln der Rattenfänger zum Auszug auf. Die Geschichte macht heutzutage viel Spaß. Was wohl auch daran liegt, dass kein Kind mehr vom Rattenfänger in den Berg geschleppt wird. Allenfalls ziehen die modernen Rattenfänger die Kinder an, die nämlich, wenn das Wetter gut ist, Papi und Mami nach der Rattenfängerei in die nächste Eisdiele abschleppen!
Geschrieben 1988/89,
1996 zu Weihnachten als Geschenkband erschienen. Grafik von Einhart Grotegut.
Sagenhaft – 12 Sagen. Nacherzählt von Ulrich van Stipriaan.
Sagen wie diese kann man bestimmt auf verschiedene Arten interpretieren. Auch eine spirituelle Sicht ist möglich. Hab hier was gefunden:
https://www.rosenkreuz.de/artikel/die-sage-vom-hamelner-rattenfaenger