Was macht denn den Reiz eines Ortes aus? Vielleicht ist er schön, vielleicht ist er architektonisch von Bedeutung – derlei Sachen. Aber auf jeden Fall sind es die Menschen, die jedem Ort die ganz besondere Prägung geben. So erging es uns auch beim Besuch der St. Jacobi Kirche in Göttingen. Sie war uns beim Vorabendbummel schon von hinten aufgefallen, weil da die Muschel als Zeichen der Jacobs-Pilger über der Straße hängt und ein auffälliges Denkmal von Bernd Löning den Heiligen Jacobus darstellt. Also beim Tagesbummel nochmal hinten gucken und dann einmal rum und von vorne rein.
Wow!
Entschuldigung für diese knappe und etwas flapsige Beschreibung, aber der erste Eindruck der dreischiffigen gotischen Hallenkirche ist beeindruckend. Sie ist hoch – na klar. Aber die Pfeiler sind bunt (wie sie in der Renaissance schon einmal waren – renoviert wurde die Kirche 1999) und geben dem beeindruckenden Raum ein heiteres Gepräge. Auf halbem Weg zum Altar unterstützt eine temporäre Koffer-Ausstellung diesen Eindruck. Ganz vorne dann der Altar, den man sich mindestens dreimal ansehen sollte: alltags, sonntags und an hohen Feiertagen – er gibt sich nämlich mal so und mal so. Ein heute unbekannter Meister schuf den Flügelaltar 1402 und gab den Flügeln Funktion: geschlossen als Werktagsseite sieht man Szenen aus dem Leben des heiligen Jacobus, einmal geöffnet als Sonntagsseite wird die Kindheits- und Leidensgeschichte Jesu in Bildern erzählt und der ganz geöffnete Altar – die Festtagsseite – zeigt Christus und Maria, die Apostel, Heilige sowie auf der Sockelzone Propheten.
Für zwei Euro kann man den Turm besteigen, wobei der geringe Geldbetrag das geringste Hindernis ist: Es ist eine feine Kraxelei, vor allem im oberen Bereich. Wenn ich mich nicht verzählt habe, sind es 27 nach allen Regeln der Kunst erbaute Holzstufen, die einen zum Turmeinlass auf Höhe der Orgelempore bringen, gefolgt von 58 ausgelatschten Steinstufen. Dann noch einmal 24 Holzstufen, schon nicht mehr so chic wie die unten – und dann 163 extrem steile Treppenleitern bis hoch oben. Es geht vorbei an einem Uhrwerk und weiter oben an den fünf Glocken von St. Jacobi. Die älteste wurde am 28. Juni 1423 aufgehängt, die anderen sind (weil die Originale das Schicksal vieler Glocken in Kriegszeiten teilten) jüngeren Datums.
Die Glocken von St. Jacobi läuten übrigens zu jeder Jahreszeit anders, weil immer eine der fünf stille schweigt. Nur an hohen christlichen Feiertagen senden alle fünf einen besonders festlich-üppigen Klang über die Stadt. Glücklicherweise (an diesem Ort ist man geneigt zu denken: Gott sei Dank!) läuten sie nicht los, als ich auf Augen- und somit auch Ohrenhöhe bin. Statt dessen höre ich von weiter oben eher liebliches Glockenspiel. Es ist 1968 errichtet und besteht aus 13 bronzenen Glöckchen, die von einem Glöckner quasi handgehauen werden – also er hämmert mit den Fäusten auf Hebel, die mit Seilen die Klöppel der Glocken erklingen lassen.
Das klang so lieblich, so aufmunternd, so – pardon: – glockenrein, dass der Aufstieg auf ganz spezielle Art dann doch zum Vergnügen geriet. Und wie das so ist im Leben: Auf einer der zahlreichen Treppenleitern nach oben gehend sehe ich oben einen Mann stehen. Zwangsläufig wartete er, Auf- und Abstieg geht nur im Einbahnsystem. Oben angekommen, war klar, wer da stand: Der Glöckner von St. Jacobi. Wir kamen ins Gespräch, ich erzählte ihm, warum ich hier herumkraxele: Ich sei auf Recherchetour für Beiträge zu einer Tagungszeitschrift, denn die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte tage im September in Göttingen. Daraufhin Dr. Ernst Puschmann: „Naturwissenschaftler bin ich auch!“ Das, denke ich mir, wundert mich jetzt nicht in Göttingen. Irgendwie ist die ganze Stadt doch Universität.
Ein Foto dürfe ich gerne machen, wenn es nur schnell ginge – er habe etwas weiter unten noch eine Verabredung an der Orgel! Also machten wir schnell, viel zu schnell, denn da hätte man gut und gerne eine Stunde Portraits und Stillleben arrangieren könen. Also tschüß: Dr. Puschmann runter an die Orgel, ich hoch zur Turmspitze. Dort ist es anders als erwartet: Kein Rundumgang außen rum, sondern ein geschlossener Raum mit vier Öffnungen, durch Fensterläden verrammelt. Die lassen sich allerdings öffnen und man kann nacheinander in alle vier Himmelsrichtungen sehen. Liegt schön, dieses Göttingen!
Der Weg runter ist auch nicht ohne. Schilder empfehlen „Rrrrückwärts runter ist sicherer“, und so ist es dann auch. Die großen Glocken verhalten sich auch auf der Hochrunterpassage ruhig, statt dessen ist wieder Hintergrundmusik zu hören: Ernst Puschmann an der Orgel und Marten Bock an der Trompeter. Der Glöckner von St. Jacobi und der Turmbläser von St. Johannis musikalisch vereint – so wie fast jeden Samstag zwischen 11.45 und 12.15 Uhr.
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