Soviel Milchstraße ist selten zu sehen. Es ist die Nacht der Nächte, Ausgabe Winter: die Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar. Auf Hiddensee sind die Nächte um diese Zeit besonders lang: Um zehn vor vier am Nachmittag etwa geht die Sonne unter, um dann am Morgen so gegen halb neun erst wieder aufzutauchen. Okay, das bietet auch notorischen Langschläfern einmal die Chance, einen Sonnenaufgang zu fotografieren, aber die größere Nähe zum Nordpol bedeutet eben auch, dass die Sonne im Dezember nie so recht hoch kommt und immer lange Schatten wirft. Wie schön für die Kleinen. Aber ich schweife ab, es ist ja Nacht, und wir sind von Vitte nach Kloster geradelt, um von dort aus zum Leuchtturm zu laufen. Das sei, sagte man uns, ein idealer Ort, um den Jahreswechsel auf der Insel Hiddensee zu erleben.
Wie man so untertreiben kann! Der Ort ist sensationell – wenn man nicht dem Trubel der mehreren hunderttausend Kontaktfreudiger auf der Partymeile vor dem Brandenburger Tor zu frönen bereit ist. Das Leuchtfeuer Dornbusch, wie der 28 Meter hohe Turm auf dem 72 Meter hohen Hügel im Norden der Insel offiziell heißt, war zwar auch ganz gut besucht, ich schätze mal: mehrere Dutzend Menschen. Aber trotz des inseltypischen Rotkäppchen-Piccolos, den die meisten in ein- bis vielfacher Ausfertigung im obligatorischen Rucksack mit hochgeschleppt hatten, wäre der Begriff Partymeile doch sehr bemüht.
Das schönste Licht der Nacht schickten die nettesten der Milliarden Sterne der Milchstraße, das zweitschönste das Feuer des Leuchtturms. Man sah es schon als sich langsam drehende Lichtspirale auf dem Weg hoch auf den Schluckswiekberg, auf dem das Wahrzeichen Hiddensees steht. Eine Halogenmetalldampflampe mit einer Leistung von 400 Watt dient als Lichtquelle, zwanzig Fresnel-Linsen schicken aus 94 Metern über dem Meeresspiegel das Licht bis zu 45 Kilometer weit raus aufs Meer. Die Optik ist übrigens noch ein Originalteil von 1888, dem Baujahr des Turms. Wir sind, als wir das lesen, tief beeindruckt. Noch mehr beeindruckt uns der Blick 21 Meter den Leuchtturm hoch: Die Lichtstrahlen, die von weitem stetig und ruhig ihre Bahn um den Leuchtturm zogen, scheinen still zu stehen – und die Sterne über den Strahlen drehen sich wie in einem Planetarium. „Unbeschreiblich!“ schwärmt jemand, der auch hochsieht und vor Schreck oder Freude gleich mal seine mitgebrachten Billigraketen im Rucksack zu lassen beschließt.
Um Mitternacht knirschen die Schraubverschlüsse der Piccolos, einige Raketen am Leuchtturm zerschießen das 20strahlige Romantikkarussell, in weiter Ferne auf Rügen sieht man es auch flackern – und wer weiß, wo Dänemark ist, erkennt auch dort erregtes Himmelsleuchten. Dem allgemeinen Knirschen schließt sich die Landschaft an – das neue Jahr beginnt mit leichtem Frost, der sich über die Blätter und Gräser der Insel zieht. Aber auch wenn es nur vier Kilometer bis zum warmen Zimmer sind: das reicht, um wieder auf Betriebstemperatur zu kommen. Quasi zu Hause wird dann noch einmal richtig angestoßen – der Cremand de Bourgogne von François Mikulski erinnerte aus gutem Grund an Dresden: den gibt’s gerne mal in der WeinKulturBar vom gebürtigen Rüganer Silvio Nitzsche…
PS: Das Lied vom vergessenen Farbfilm geht mir seit der Fahrt nach Hiddensee nicht mehr aus dem Kopf. Danke, Nina!
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