Na klar wissen wir, dass Musik berühren kann und auch ans Gemüt geht. Aber wenn dann bei der Sinfonia des Bach’schen Weihnachtsoratoriums die Hand der Nachbarin die des Partners sucht, um sie zu drücken, wenn in der Gruppe von rund einem Dutzend geistig Behinderten ein paar Reihen weiter die Gesichter sich im Laufe der drei Kantaten entspannen und ein glückseliges Lächeln Raum greift, wenn man sich verstohlen die Brille abnimmt und mit dem Handrücken verschämt die Kullerträne von der Wange streicht – dann ist das schon mehr als unbedingt zu erwarten.
Wer verzaubert uns da? Bach ja nur indirekt, aber natürlich ist er der Meister. Eigentlich müsste er ja Fluss heißen und nicht Bach, befand Götz Alsmann einmal anlässlich der populistischen Frage, wer denn der Bedeutendere sei – Bach oder Beethoven. Beide, wenn man mich fragt… – aber mich fragt ja keiner, und eigentlich ist das ja auch egal. Aber nehmen wir zur Vorweihnachtszeit mal Bach als gesetzt. Doch dann kann man das Weihnachtsoratorium ja immer noch so oder so spielen und singen. Wir hörten die Kantaten I bis III im Westfälischen, trafen in der Evangelischen Kirche zu Ladbergen aber reichlich Dresdner: Ludwig Güttler mit den Virtuosi Saxoniae, das Sächsische Vocalensemble mit drei Solisten aus den eigenen Reihen und Georg Poplutz als Evangelist – für eine Dorfkirche mit eher beengtem Altarraum eine Menge Aufführende.
Es war das 15. Konzert im Advent – das letzte in einer Reihe von Benefizveranstaltungen jeweils am Vorabend des zweiten Advent. Das erste Konzert fand 2000 statt, um Kultur und soziales Engagement zugunsten des Wiederaufbaus der Dresdner Frauenkirche zu verbinden. Schnell wurden die Güttler-Konzerte, die der Trompetenvirtuose mit seinen diversen Ensembles gestaltete, ein fester Punkt im Jahreslauf – der Musik wegen und auch um der Förderung willen. Günther Haug, der das Dresdner Taschenbergpalais als Hoteldirektor eröffnete und in den Jahren danach leitete, hatte die Initiative in Ladbergen ergriffen – sein Gasthaus zur Post war Treffpunkt für den zweiten Genussteil der Abende: Es gab für bis zu 200 der insgesamt etwa je 800 Konzertgäste Vorspeisen vor sowie Hauptgang nebst Dessert nach dem Konzert.
Ausrichter der Konzerte war ein Förderverein, dem anzugehören ich die Ehre habe. Und als Erlediger für all die vielen Kleinigkeiten gab es engagierte Ehrenamtliche. Zu tun gibt es nämlich reichlich, wenn aus einer Kirche ein Konzerthaus werden soll. Die rund 800 Plätze in der Kirche mussten nummeriert werden – beim ersten Mal erledigten wir das aus Ahnungslosigkeit noch mit Klebeetiketten, die eine sehr innige Verbindung mit dem Holz bzw. dem Lack auf den Rückenlehnen der Bänke eingingen. Wir lernten hinzu und besorgten leicht lösbare. Nach 15 Jahren stellt sich natürlich die Frage, ob statt jährlicher manueller Kleberei von insgesamt rund 12.000 Etiketten es nicht auch edle fest angebrachte Messingschildchen getan hätten… Aber erstens ist man später immer schlauer und zweitens mussten wir ja eh durch die Reihen gehen und Programmhefte auslegen. Das gab zumindest ein schönes Bild!
Schon vorher machten Tischler und Elektriker aus dem Altarraum eine Bühne mit blendfreier Beleuchtung. Da wurde vor den Veranstaltungen gehörig gewerkelt und vor allem nach dem Konzert noch am Samstagabend alles von fleißigen Händen rückgebaut: Zum Gottesdienst am Sonntag war die Kirche wieder ein Gotteshaus – und kein Konzertsaal mehr. Was man beim Bühnenbau an Kleinigkeiten alles vergessen kann, ist ein nach oben offenes Füllhorn an Möglichkeiten. Sehr beliebt sind fehlende oder rutschende Antrittsstufe zum Erklimmen der Bühne oder Balken an den seitlichen und hinteren Enden, damit im Schwung der Musik nicht ein Musikus mitsamt Stuhl runterkippelt.
Am Nachmittag vor dem Konzert ist Probenzeit. Als Laie wundert man sich: Die angereisten Musiker gehören allesamt zur Spitzenklasse, das Ladberger Konzert ist in der Regel eins in einer Tournee-Reihe – kennt man sich und die Musik da nicht? Im Prinzip ja, aber es gibt im Schnelldurchgang eben immer wieder was zu verbessern. Das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten, was dann das Hörvergnügen am Abend noch mal einen Tacken größer werden lässt. Güttler als Dirigent hat natürlich seine Vorstellungen, und die gehen bis ins letzte Sechzehntel. Mindestens. Hin und wieder besprechen sich Konzertmeister Roland Straumer und Ludwig Güttler, diskutieren die Musiker auch bei den Kurzdurchgängen – aber im wesentlichen ist das die Zeit für die kurze Verständigung. Dirigieren ist eben mehr als vorne stehen und das Stöckchen schwingen – es ist harte Arbeit und das gemeinsame Ringen um Qualität. Bei der Gelegenheit: Am Ende des Konzerts gibt’s dann von eben dem fordernden Dirigenten ein kurzes Innehalten und eine Verbeugung zu den Musikern: Ist gut gelaufen – danke!
Es menschelte immer verdächtig angenehm bei den Güttler-Konzerten in Ladbergen – und das merken auch die Musiker. „Sie dürfen jetzt klatschen!“ half Ludwig Güttler am Anfang manchmal nach, wenn sich das Pubklikum unsicher war: Nach dem Stück oder erst zur Pause? Mittlerweile ist das keine Frage mehr! Die Nikolaussäckchen, die die Musiker am Ende des Konzerts überreicht bekommen, gehören mittlerweile ebenso dazu wie der Scheck, der in den Anfangsjahren noch als überdimensionales Muster fotogen überreicht wurde (das Geld kam natürlich immer auf dem ganz normalen Weg aufs Förderkonto: es wurde überwiesen). Um die 150.000 Euro in all den Jahren – für ein Heidedorf, wie Ladbergen sich selbst nennt, eine ganze Menge.
15 Jahre – und dann ist’s vorbei, mit Pauken, Trompeten, mit Jauchzen und Frohlocken. Da muss es einem doch feucht ums Auge werden…
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