Kein brunftiger Hirsch

Anton Paul Kammerer mit der Ausstellung P · S bei Elisabeth Haugs Antiquitäten und Kunst in Ladbergen

Guten Tag!
Es geschah an einem Sonntag, meine Damen und Herren. An einem Sonntag wie heute. Ort des Geschehens war ein kleines Dorf, ein sehr kleines. Also nicht Ladbergen, sondern Burgstädtel. Das liegt etwas südöstlich von Dresden. So oder so ähnlich stellt man sich die Stelle vor, an der sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.

Burgstädtel ist nicht nur eine extrem romantische Stelle, es ist sogar im wahrsten Sinne des Wortes eine „malerische“, denn dort haben sich Künstler niedergelassen. Jürgen Wenzel, den einige von Ihnen kennen, weil er vor gut einem Jahr hier ausgestellt hat, gehört dazu, und Anton Paul Kammerer, den Sie gerade kennenlernen, auch. Er ist, wie Wenzel, Mitglied der Künstlergruppe „B 53“ – die beiden sind, wenn auch mit unterschiedlichen Adressen, Nachbarn und teilen sich die gleiche Druckwerkstatt in jenem worpswedischen Burgstädtel.

Es ist immer noch Sonntag, wir sind immer noch im lieblichen Burgstädtel im Atelier des Künstlers Anton Paul Kammerer. Der ist gerade ein wenig im Stress, weil erstens dieser Journalist aus Dresden da ist und ihn versucht zu befragen, was er denn so in Ladbergen auszustellen gedenke. Und zweitens muss er am nächsten Tag zu einer anderen, viel näher-liegenden Ausstellung aufbrechen, die ihn an die Nordsee führen wird.

Erste Kontakte sind gerade geknüpft, die üblichen freundlichen Worte des Kennenlernens geredet. Wir brüten über alten Katalogen, sehen uns Ektachrome an und einige Originale, die Sie heute hier wiederfinden. Bevor wir uns dem Ende der Geschichte nähern, sollte, um einerseits den Höhepunkt herauszuschieben und andererseits einen möglichen Erklärungsnotstand zu beseitigen, noch dieses erwähnt werden: Das Atelier des Künstlers hat große Fenster, des Lichtes wegen. Man kann also gut reinsehen, wenn man noch nicht drin ist.

Da passiert es: Ein etwas älteres Ehepaar kommt auf das Grundstück, geht scheinbar vertrauten Schrittes auf die Tür des Anwesens zu. Kammerer zu Stipriaan: Kennen Sie die? Stipriaan zu Kammerer: Nee, ich dachte, Sie kennen die!
Die Tür geht auf, der Besucher erkundigt sich nach dem Künstler, aber der steht ja schon vor ihm, wenn auch leicht irritiert. „Ich habe,“ sagt der Mann, „zu Hause so ein Bild. Brunftiger Hirsch am Bergsee. Aber das ist nicht in Öl! Können Sie mir das machen?“
Meine Frau, die mit in Burgstädtel war, ringt mit der Contenance und zerbeißt ein Taschentuch, um nicht loszuprusten. Anton Paul Kammerer läuft rot an wie ein beim ersten Kuss ertappter Jüngling. „Nein“, sagt er sehr höflich noch und doch bestimmt. „So was mache ich nicht.“

Der alte Herr insistiert, nun schon im Tonfall etwas bestimmter: Aber er sei doch Maler, und außer ihm gebe es doch noch andere hier. Und er möchte doch den brunftigen Hirsch so gern in Öl, und warum denn nicht?“

Meine Frau weiß nicht mehr, worauf sie beißen soll, um nicht doch noch loszuprusten, und Anton Paul Kammerer wird noch eine Spur röter. Nein wirklich, das sei auch nicht der Stil seiner Kollegen hier. „Wir machen es eher abstrakt!“ sagt er nun schon ein wenig unwirsch. Und das hilft: Die Herrschaften gehen, denn abstrakte brunftige Hirsche kommen nicht mal in Öl gut!

Soweit die kleine Sonntagsmorgengeschichte aus dem fernen Sachsenland. Sie lehrt uns dreierlei.

Erstens: Komme einem Künstler nie mit einem Wunsch, wenn er sowieso schon gestresst ist.

Zweitens: Rücke nie sofort mit der vollen Wahrheit heraus. Denn Hirsche an sich sind ja ein durchaus malenswertes Sujet, und dass die Hirsche gerade brunftig sind, kann ja im Laufe des Gespräches nach der prinzipiellen Einwilligung immer noch rechtzeitig in die Verhandlung eingeführt werden.

Drittens: Gib nicht zu schnell auf! Arbeite Dich Stück für Stück voran! Denn Anton Paul Kammerer liebt es gar nicht nur abstrakt, und in Öl macht er neuerdings auch.

Kammerer PSUnd das kam so:
Anton Paul Kammerer, der als Krebs in Weißenfels geboren wurde, hat das Plakatmalen in Merseburg und Halle gelernt. Das ist ein viel zu praktischer Beruf, um in Öl zu machen, und Hirsche kamen auch nur sehr selten vor. Als Plakatmaler aber merkte Kammerer, dass das nicht unbedingt alles gewesen sein kann. Er kam nach Dresden, um dort an der Hochschule für Bildende Künste zu studieren. Malerei und Graphik waren seine Fächer, Jutta Damme eine seiner Lehrerinnen. Und um denen, die regelmäßig hier sind zu Ausstellungseröffnungen, das Weltbild zu runden: Goran Djurovic war einer seiner Kommilitonen.

1980 bestand Kammerer sein Diplom, und seitdem ist er Künstler. Anders als andere ist er nur das und lebt nur vom Verkauf seiner Bilder – eine Rarität, denn das schaffen höchstens zehn Prozent derer, die das gerne wollen und auch mit einem Studium bekräftigen.
In Anlehnung an das Sternzeichen des Künstlers kommt da manchmal ein „Herum-Krebsen“ heraus, das nicht immer glücklich macht. „Glücksmomente und Durststrecken stehen im Verhältnis 1 zu 7“, hat Kammerer einmal geschrieben. Aber in der ihm eigenen feinen Ironie ergänzt er: „Wie bei allen anderen Wesen, und so bin ich nie auf die Idee gekommen, etwas Besonderes zu sein, obwohl ich es ja eigentlich bin!“

Ob er es nun ist oder nicht, müssen Sie, meine Damen und Herren, selber entscheiden. Die Gelegenheit dazu haben Sie hier, wenn Sie sich die Ausstellung ansehen. Die ist, wie immer in diesem Geschäft, schon dadurch bemerkenswert, dass dem Künstler zur Gestaltung der Ausstellung keine nackten weißen Wände zur Verfügung stehen. Hier ist Wohnzimmer, Herrenzimmer, Esszimmer und Diele, und die Wände sind farbig. Nun hat Kammerer, der das zwar abstrakt wusste, aber natürlich nicht konkret vor Augen hatte, seine Bilder gehängt – und es sieht aus, als ob’s genau so hätte sein müssen.

Wenn Sie gleich die Muße haben, einmal herumzugehen und sich die Werke anzusehen, könnten Sie auf den Gedanken kommen, dass hier mehrere Künstler hängen. Sie finden nämlich friedlich nebeneinander mehrere Techniken, vom Ölgemälde über Zeichnungen und Radierungen bis zur Collage. Und Sie finden durchaus unterschiedliche Stile. Dennoch sind das alles echte Kammerer: Es ist einfach so vielseitig und lässt sich die Lust an der Kreativität einfach nicht einschränken. Er macht, wonach ihm der Sinn steht, und wenn er etwas leid ist oder die angewandte Technik ihm eine Pause abverlangt, widmet er sich dem Nächsten. Die verschiedenen Bildsprachen braucht er aber auch, um Unterschiedliches auszudrücken. Kammerer selbst sagt: So wie ein Blues oder ein guter Rock’n’Roll beispielsweise französisch gesungen eher lächerlich klingt, braucht auch er die richtige Sprache, den richtigen Ausdruck.

Wenn uns am ersten Januar wirklich ein neues Jahrtausend beschert ward, dann haben wir heute hier Bilder aus zwei Jahrtausenden.

Die Rosen, Dahlien und Hortensien in Öl stammen aus neuerer Zeit. Nicht inspiriert durch die eingangs erwähnten Herrschaften, sondern eher durch sein neues Atelier, das endlich mehr Licht, wie Goethe schon so trefflich forderte, ins Malen bringt. Da wird sicher noch einiges zu erwarten sein, denn zeichnen kann Kammerer ja sowieso – anders übrigens als viele Moderne, die es nicht können und ihre zeichnungsarmen Werke dann damit erklären, dass sie gar nicht wollen. Aber Kammerer ist da ganz alte Dresdner Schule: Das Handwerk haben sie gelernt und beherrschen es, und wer dann nicht zeichnet, der kann schon, will aber wirklich nicht.

Kammerer aber will. Man sieht es eigentlich immer und überall: Wenn er seine Muschelsammlung auswertet und die ungeheure Form- und Farbenvielfalt studiert, wenn er Falter und Käfer mit Liebe zum Detail wie fürs Biologiebuch porträtiert, und man sieht es sogar in eher spielerischen Skizzen wie dem „Pater Brown“, der der Krimi-Leidenschaftliche aus einer Laune heraus entstehen ließ.

Kammerer schafft gerne Neues, indem er sich dezidiert auf Traditionen beruft oder Altes verarbeitet. Die beiden Landschaften beispielsweise mit ihrem hohen Himmel, der in seiner Wolkigkeit hier im Münsterland zu Hause sein könnte, haben ihr Vorbild in holländischen „Reintjes“ des 17. Jahrhunderts.

Ganz anders die wunderbare Serie der Roten Wolke. Da tobt sich der Künstler aus, indem er selbst zeichnet und Fertiges übernimmt, um es zu collagieren. Kammerer liebt die Vielschichtigkeit, klebt bis zu zehnfach übereinander, was dann Rätsel aufgibt und entdeckt werden will. Das Collagieren vergleicht er mit dem Kochen: Man hat einen Zutatenmix und braucht guten Geschmack, dann wird’s was. Und was Marcus Heller nebenan im Gasthaus die frischen Zutaten, das sind dem Künstler hier gerne auch die alten. Die Indianer unter der roten Wolke stammen von einem Abreißkalender mit Fotografien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sind an sich wunderbar fotografiert von einem, der es konnte: Curtis. Nun findet der sich wieder in den Collagen, die so wunderbar sich einfügen in ihre Umgebung. Farblich sowieso, die Red Cloud ist für die Wand wie für das davor stehende Mobiliar ein Glückstreffer. Aber auch inhaltlich, denn weil ihm die Wolke von der Form her zum Steak mutierte, hat Kammerer gleich noch ein Rezept aufs letzte Bild geschrieben!

Damit möchte ich Sie in die nun eröffnete Ausstellung entlassen, nicht ohne den Hinweis, dass man auch diesmal wieder auf seinen Goethe hören sollte: Erwirb es, um es zu besitzen! formulierte er einmal. Und da hatte er recht.

Rede zur Ausstellungseröffnung am 19. März 2000, Anton Paul Kammerer: P · S. 
Frühjahrsausstellung 2000 von Elisabeth Haug, Antiquitäten und Kunst

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