Wenn man sich ein bisschen vorbereitet auf den Sardinien-Urlaub oder offenen Auges durch die Gegend fährt, stolpert man früher oder später über den Begriff „Nuraghe“. Das sind, erfährt man, so alte Türme, von den Nuraghern. Auf einer vornehmen Gesellschaft würde man an dieser Stelle wohl sagen: „Ach so, von den Nuraghern? Ist ja interessant!“ und sich schnell abwenden und dabei denken: „Was das nun wieder soll! Nuragher, nie gehört!“
Aber dann steht er eines Tages vor dir: Ein Turm aus großen Steinblöcken, ohne Mörtel einfach aufeinander gelegt. Wenn man Glück hat, steht neben dem Turm ein Mensch und erklärt einem ein wenig das Wie und Wann und vielleicht sogar das Warum. Wir hatten Glück: Der Nuraghe Mannu (der „große Nuraghe“) ist Teil eines archäologischen Komplexes. Er liegt in schönster Lage etwa 200 Meter über dem Meer zwischen Cala Gonone und der Cala Luna, so ziemlich in der Mitte des Golfes von Orosei – aber um dahin zu kommen, muss man von der Straße abbiegen, die von Cala Gonone nach Dorgali führt, auf immer schlechter werdender Straße ins Landesinnere fahren und letztendlich noch knapp einen Kilometer laufen. Und dann kommt: Ein Kiosk! Der geringe Eintritt von drei Euro in das Areal zum Nuraghe Mannu, der dort entrichtet werden muss, lohnt schon deswegen, weil der Mann an der Kasse ein kompetenter Auskunftgeber ist. Er kam von der Kooperative Ghivine, sprach gut deutsch, wusste ordentlich Bescheid und beantwortete geduldig die Fragen unvorbereiteter Touristen. Außerdem hatte er, so klein ist die Welt, unserer Vermieterin beim Schriftverkehr mit dem Ferienhausvermittler geholfen!
Der „große Nuraghe“ ist trotz seines Namens vergleichsweise klein, Durchmesser außen etwa zwölf Meter, verbliebene Höhe 4,70 m. Die Steinblöcke aus Basalt und Trachit liegen wuchtig übereinander, und vom Eingang, der Richtung Osten zeigt, führt links eine Treppe hoch. Weil dem Turm in den vergangenen Jahrtausenden oben der korrekte Abschluss abhanden gekommen ist, endet die Treppe irgendwie sinnlos im Nichts. Bei erhaltenen Nuraghen führt sie auf eine Aussichtsplattform, die ganz sicher nicht für Touristen gemacht wurde, sondern als Ausguck zur Beobachtung diente: Feinde kamen von weiter her, manchmal aber auch vom Nachbarn um die Ecke.
Nuraghen gibt es auf Sardinien sozusagen wie Sand am Meer – aber es gibt sie so nur auf Sardinien. Die von mir sehr geschätzte Wikipedia hält manchmal schöne Stilblüten bereit, denn wenn es um die Menge der Nuraghen auf Sardinien geht, kann man Folgendes lesen: „Nach neuerer Schätzung wurden etwa 6.500 errichtet. 1962 waren durch Lilliu (s. Literatur) noch Überreste von ca. 7.000 Nuraghen registriert worden.“ (Version 20:42, 27. Jun. 2009). Das ist schon spannend, dass da mehr registriert als gebaut wurden! Aber da das Zeitalter der Menschen, die diese Türme gebaut haben, schon sehr lange her ist, muss man sich doch gar nicht um die genaue Zahl streiten: Es reicht zu erwähnen, dass quasi das ganze Land mit diesen Türmen überzogen war und ist.
Die Nuraghenkultur wird immer noch kräftig erforscht: Was da zwischen etwa 1.800 und 300 vor Christi Geburt passierte und das Leben bestimmte, ist keineswegs gesichert. Wachtürme allein waren die Nuraghen sicher nicht, denn die archäologischen Grabungen brachten allerlei Alltagskram zu Tage. Der Nuraghe Mannu wurde 1927 erstmals von A. Tamarelli erforscht, der unter anderem herausfand, dass die Steine rund um den Turm viel jüngeren Datums sind und auf eine römische Siedlung zurückgehen. Seit 1994 buddeln über 700 Freiwillige unter archäologischer Anleitung, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Doch neben all dem Wissen, was dabei herauskommt, ist es letztendlich ein ganz unwissenschaftliches Gefühl, das das gewisse Kribbeln erzeugt: Diese Stufen sind vor 3.500 Jahren schon Leute hochgegangen, die sich am gleichen Stein festgehalten und aufs schon damals blaue Meer gesehen haben!
2 Trackbacks / Pingbacks