Johannes Bückler, ein 27jähriger Herr und trotz seiner Jugend schon Chef eines Unternehmens mit über 60 Mitarbeitern, lässt sich eigentlich durch nichts so schnell aus der Ruhe bringen. Überlegenheit ist halt Teil seines Erfolgs, da geben ihm seine Leute recht. Aber an diesem 8. November stehen die Karten gar nicht gut um ihn. Er führt ein sehr ernsthaftes Gespräch, bei dem es um eine Menge geht: Die Frage ist nämlich, wie der Herr Bückler hingerichtet werden soll. Richtig: Nicht ob, sondern wie. „Ist es wahr“, fragt der Schinderhannes genannte Johannes Bückler, „dass ich gerädert werden soll? Das wäre doch sehr schrecklich!“
In der Tat, das wäre kein wirklich nettes Ende. Aber der Herr Gerichtspräsident kann seinen Gesprächspartner beruhigen: Nein, für den Herrn Bückler sei die Guillotine vorgesehen! Und er habe auch noch ein paar Tage Zeit bis dahin: Am 21. November sei es dann soweit…
Warum man dem erfolgreichen Jungunternehmer so ein brutales Ende schaffen will? Weil er zwar erfolgreich ist, aber den falschen Beruf gewählt hat: Der Schinderhannes ist nämlich Räuberhauptmann. Allerdings von einer Art, die romantisch-verklärt keineswegs als Ekelpaket in die Annalen eingeht, sondern als eine Art liebes Räuberlein, das nur den Reichen nimmt und den Armen gibt, wie es der Inbegriff dieser Räubergattung – ein gewisser Robin Hood – in den Wäldern um Sherwood vorgelebt haben soll. Der Robin Hood des Hunsrück, der im Hessischen, im Siegerland, an der Nahe und zwischen Rhein und Mosel seinen zweifelhaften Geschäften nachging, ist jener Johannes Bückler. Er hat es zu reichlich Ruhm gebracht – der für seine Phantasie zu recht gerühmte Volksmund hat die eine oder andere Mär erdacht und dem Schinderhannes angedichtet, und Carl Zuckmayer hat sogar ein ganzes Drama nach ihm benannt und darin Volkes Mund als Dichters Kunst festgehalten.
Sich ein umfassendes Bild des Schinderhannes zu machen, ist gar nicht so leicht – denn einerseits steht fest, daß es in dem Prozess zu Mainz um 53 verschiedene Anklagepunkte ging, die vom Straßenraub bis zum Mord nicht gerade eine schmeichelhafte Liste der Aktivitäten des Unternehmers Schinderhannes abgeben.
Andererseits aber sind da diese vielen Geschichten, die – wenn nicht wahr, so doch gut erfunden – auf ganz nette Züge des Herrn Bückler schließen lassen: Ein Schelm war er, und dann und wann konnte er sogar richtig nett zu den Leuten sein (zumindest zu einigen, und das auch meistens auf Kosten anderer, wie wir noch sehen werden!).
Da ist zum Beispiel die Geschichte im Gasthof „Grüner Baum“ an der Nahe, die man bei Zuckmayer nachlesen kann: Da ging der Schinderhannes hin und befahl dem Wirt, „dene Leut ihre Schuldstriche von der Tafel zu wische“ – und den Gästen ohne Barschaft auch noch eine Runde zu spendieren sowie was Ordentliches zu Essen zu bringen. Klar, dass sowas bei den Leuten schwer Eindruck schindet, außer beim Wirt natürlich.
Oder die Geschichte mit der armen Frau und der Kuh. Die geht so: Eine Frau wollte sich eine Kuh kaufen, besaß aber nur zehn Taler. Da gab ihr der Schinderhannes erstens zehn weitere Taler und zweitens einen Rat: Sie möge sich bitte eine recht ordentliche Kuh für das Geld kaufen und eine Quittung geben lassen. Diese Quittung bekam der Schinderhannes, nachdem die Frau eine Kuh erstanden hatte. Und was tat er? Er ging zum Viehhändler, um dort Quittung gegen Geld zurückzutauschen. Unter Hinweis darauf, dass er der Schinderhannes sei, natürlich, was dem Händler die Entscheidung leichter machte: Er gab das Geld zurück und behielt dafür immerhin sein Leben. Die Frage ist natürlich, ob der Schinderhannes in diesem Fall nun wirklich nur nett gehandelt hat – denn immerhin hatte er ja seinen Einsatz binnen kürzester Zeit verdoppelt und somit eine traumhafte Rendite erzielt.
Kniffliger war da schon die Sache mit Napoleon. Dem soll der Schinderhannes (sagen jedenfalls die Leute im Siegerland) anlässlich einer Begegnung gesagt haben: „Du ein großer, ich ein kleiner!“ Die Frage ist natürlich: Was hat der Herr Bückler dem Kaiser damit sagen wollen? Natürlich hätte der Kaiser nachfragen können, aber dann wäre aus dieser Angelegenheit ja keine Geschichte geworden. Also hat Napoleon das Fragen sein gelassen und lediglich gedacht: Dieser Mensch wird wohl gemeint haben, dass er ein kleiner und ich ein großer Spitzbube sei. Mag sein, dass Napoleon da gar nicht so falsch lag und vielleicht ganz heimlich für sich diese Wertung sogar teilte. Aber so etwas kann ein Kaiser natürlich nicht zugeben, weswegen er nach außen hin den Beleidigten mimte und den Schinderhannes später nicht begnadigen wollte.
Ach so, richtig. Die Geschichte hat natürlich noch eine Fortsetzung, an der man sieht, wie sehr den großen Feldherrn die Angelegenheit beschäftigt hat. Als Napoleon nämlich einmal mit seinen Generalen zusammensaß, soll er sie nach einer Interpretation des Schinderhannes-Satzes gefragt haben. Daraufhin die Antwort eines Generals (wohl auch, um selbst nicht in Ungnade zu fallen): „Du ein großer Feldherr, ich ein kleiner!“ Das war natürlich genial, und eigentlich hätte Napoleon darauf auch selber kommen können. Naja, er fühlte sich jedenfalls geschmeichelt, wollte nicht nachtragend sein und „den Kerl jetzt aber bitte sofort begnadigen“, was er als oberste Instanz in Gerichtssachen gut hätte machen können. Da aber war es zu spät: Der Schinderhannes war – so die Geschichte – genau eine Stunde zuvor hingerichtet worden.
Das war am 21. November 1803. Was für ein Tag für die Mainzer, die ja damals alle weder das ZDF noch irgendein anderes Fernsehen hatten und deswegen auf Natur- und andere grandiose Ereignisse angewiesen waren, um sich zu amüsieren! Das Volk strömte zwei Tage lang in die Stadt, um dem Schauspiel beizuwohnen. In der Zeitung stand hernach zu lesen: „Alle Straßen, durch welche der Zug ging, alle Fenster waren mit Menschen besetzt. Die Wälle und benachbarten Anhöhen wimmelten von Neugierigen. Über die Hälfte gehörte zum weichen, zärtlichen Geschlecht…“ Womit die Attraktivität des Mannes trotz seines Standes (verheiratet, ein Kind) erwiesen wär!
Geschrieben 1988/89,
1996 zu Weihnachten als Geschenkband erschienen. Grafik von Einhart Grotegut.
Sagenhaft – 12 Sagen. Nacherzählt von Ulrich van Stipriaan.
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