Was Reiseführer so schreiben: „Ein wirklich schönes altes Städtchen.“ Ja, stimmt. Aber was sie nicht schreiben: Wieviel Abertausend Ziegel sind da verbaut? Wer hat sie gebrannt, wer hat sie behauen, wer hat sie gemauert? Was haben diese Ziegelsteine gesehen? Gute Zeiten, schlechte Zeiten? Sicher beides, so ist die Welt. Heute sehen diese Steine tipptopp aus, sie leuchten hellrot und angegraut, sie sind zu Mustern gelegt und doch immer auch statisch irgendwie passend: Die Häuser stehen schon so lange, wie es sich manche heutzutage beim Neubauen wünschen und doch nicht schaffen. Merke: Wer von „Nachhaltigkeit“ redet, wurschtelt eher herum als wer es einfach macht.
Corinaldo ist (nach außen hin, wir haben nicht hinter die Mauern geguckt) unglaublich intakt. Innerhalb der (begehbaren) 18 Meter hohen Stadtmauer aus dem 15. Jahrhundert ein Spinnennetz von Gassen. Einmal rundherum zu gehen ist quasi ein Muss: 912 Meter, alle Naselang ein Turm. Die meisten kann man begehen, um von oben keineswegs den Feind zu erspähen, sondern schlicht die Aussicht zu genießen. Die Aussicht auf naheliegende Dächer mit bemoosten Steinen, die Aussicht in die Ferne, wo Berge im Hintergrund den Abschluss bilden. In der Mitte: sanfte Hügel, mit grob gepflügter Erde und dem staubigen Grün des Spätsommers sowie ab und zu roten Dächern.
Innerhalb der Stadtmauern Stufen haben sie reichlich schmale schattige Gassen, aber auch quasi-repräsentative Treppen: Die eine, die Via Piaggia, hat 109 Stufen und halbwegs in der Mitte einen berühmten Brunnen. Der Pozzo della Polenta steht am dritten Juli-Wochenende im Mittelpunkt touristischen Trubels beim Polenta-Fest, wegen so einer alten Geschichte gegen das Heer von Francesco Maria della Rovere, der 1517 Corinaldo 20 Tage lang belagert hatte. Das Touristenspektakel ist farbenfroh und heiter, wahrscheinlich ganz im Gegensatz zu den wirklichen Geschehnissen.
Am Ende dieser Treppe gibt’s eine feine kleine Osteria mit Außenplätzen, die zu besuchen wir uns sehr freuten! Die Osteria de Scuretto hat ihren merkwürdigen Namen (fast bin ich geneigt zu schreiben: natürlich!) auch von einem Ereignis mit Erzählwert. Da gab es nämlich mal in Corinaldo einen Schuster und, wenn man das so sagen darf, stadtbekannten Trinker (eccellente bevitore steht auf dem Schild an der Wand des Hauses, um das es hier gleich geht – und in der Wikipedia nennen sie ihn einen „Anhänger der dionysischen Kunst“, was sehr nett klingt!). Der Sohn dieses Manns war nach Amerika ausgewandert und hatte es dort (lang ist’s her…) zu Reichtum gebracht. Vom nach Hause in die Marken geschickten Geld sollte sich der Vater ein Haus bauen – aber der, Sie ahnen es, investierte lieber in Getränke als in Steine. Als der misstrauische Sohn irgendwann mal nach einem Foto des Hauses fragte, wusste sich Gaetano (so hieß der Mann) zu helfen: Er baute, ganz nach Potemkinscher Manier, eine Fassade und lächelte fürs Bild aus dem Fenster. Doch der Schwindel kam raus, der Geldfluss versiegte, das „Haus“ blieb unfertig und ist heute noch zu sehen, mit freiem Blick ins Tal.
Die Osteria ist ein fertiges Haus und einige Minuten vom Originalschauplatz entfernt. Wir saßen draußen unter Sonnenschirmen. „Haben Sie schon gelesen was unten auf der Tafel steht?“ fragte die Bedienung. Hatten wir: Spaghetti mit Tomatensoße und Origano, eine Tagliere di Salumi e Formaggio und einen Insalatona. Mehr nicht, „wir sind ja nur eine Osteria“. Nun gut, dass sehen die einen so und die anderen so, aber es war natürlich in Ordnung und kam uns durchaus entgegen. Beim Wein gab man sich nicht so schlicht: Es gab nur guten, den allerdings sowohl als Flasche als auch offen. Den Verdicchio dei castelli di Jesi von Andrea Felici aus Apiri haben wir uns auf die Liste gerne einmal wieder zu trinkender Weine geschrieben (geht vielleicht schon vor dem nächsten Besuch in den Marken, wir haben einen deutschen Lieferanten gefunden!).
Unsere beiden Bedienungen waren trotz erheblicher Wege (raus aus der Osteria, rüber zur Terrasse, dort Stufen hoch und ran an den Gast – und dann alles zurück in die Osteria) supergut drauf. Zum Essen: Die Spaghetti waren – wie immer für neunzig Prozent der deutschen Probierer – eine Minuten zu wenig im Wasser. Also gut! Die Sauce aus frischen Tomaten, dazu Büffelkäse einerseits und Parmesan andererseits: einfach und gut und vor allem sättigend. Naja, Platz für ein Stück Mandeltorte bzw. etwas von der Schoko-Birnen-Torte (die bessere Wahl!) war noch, und der caffè zum Abschluss war ordentlich wie gewohnt.
Der Verdauungsspaziergang führt uns hoch bis in die Chiesa dell’Addolorata, die zwischen 1740 und 1755 gebaut wurde. Die Kirche, sagen die Architekten, sei ein schönes Beispiel für den Rokoko-Stil. Kopf in den Nacken und Kuppel gucken ist ebenso Pflicht wie ein Blick auf die Orgel im Chor, eine Arbeit von Gaetano Callido aus dem Jahr 1766.
Gleich nebenan im ehemaligen Kloster der Benediktinerinnen von St. Anne aus dem sechzehnten Jahrhundert verehrt man die Dorfheilige Maria Goretti (deren 123. Geburtstag heute wäre). Maria wurde mit noch nicht einmal zwölf Jahren sexuell belästigt und von ihrem Peiniger ermordet, weil sie sich zur Wehr setzte. 1959 wurde sie heilig gesprochen, weil sie „zwar ihr Blut, nicht aber ihre jungfräuliche Reinheit zum Opfer gebracht“ habe (Ansprache von Papst Pius XII. am 24. Juni 1950 zur Heiligsprechung von Maria Goretti). Naja.
Wir begeben uns, weit davon entfernt, uns auf religiöse Heiligenverehrung einzulassen, fußfest auf die Mauer. Sie ist wehrhaft, hat Wachtürme und Eingangstore mit turmgleichen Erhöhungen gegenüber der Restmauer. Alle haben Namen: Porta Nova (von 1490), Porta San Giovanni, Guardiola di Mezzogiorno – nett. Den einen oder anderen Turm kann man besteigen, um noch besser in die Umgebung oder – mit Blick zurück – auf Corinaldo zu schauen. Wer dabei denkt: Das ist doch mal ein schöner Ort!, der irrt nicht.
Osteria de Scuretto
di Franceschetti Sara
Via Cimarelli 2
60013 Corinaldo (AN)
Tel. 347.2631354
Geöffnet: Di – So 9.30 bis 2.00 Uhr, Mo geschlossen
[Besucht am 10. September 2013 | Mehr Bilder im Album bei flickr]
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