Wir waren gewarnt worden. Die Portionen seien klein und manchmal schwer verdaulich. Es bräuchte einen guten Magen und so Dinge. Die Eigeninszenierung schon vor der Eröffnung unterstützt das: ob brutal lokal (bei drunkenmonday) oder brutal regional (im tip) – brutal kommt immer vor. Und dazu gibt der 33jährige Billy Wagner, der sich in der Berliner Weinbar Rutz einen großen Namen als Sommelier gemacht hat, gerne den Grummler und inszeniert sich mit finsterem Blick.
Doch alles kommt anders. Brutal war allenfalls das Vergnügen von Allem: Atmosphäre, Nachbargäste, Personal, Essen, Wein.
Wagner ist ein perfekter Gastgeber, der zwar sein Programm und seine Vorstellungen hat, der sich aber auch auf die Gäste einlässt, mit ihnen plaudert, sie informiert, mit ihnen diskutiert – so die Zeit das zulässt, wenn an der umlaufenden Theke um die offene Küche alle (ich habe nicht gezählt, schätze aber so knapp 40) Plätze belegt sind. Wir hatten vorab schon mal gemailt – ich bat um Fotoerlaubnis, weil Wagner ja gerne „keine Fotos!“ sagt. Allerdings steht am Eingang auch, dass man ohne Revolver kommen solle – aber das wusste ich fernab beim Bestellen in Dresden ja nicht! Aber irgendwie ist es ihm ja doch Ernst damit, denn auf dem Speisezettel lese ich: „Das schönste Kompliment, dass Sie Ihrem Gegenüber machen können, ist das Mobiltelefon lautlos zu stellen und es in der Tasche zu lassen. Please take memories, not pictures.“
Was das soll? Es geht um Kommunikation, und zwar um die ursprüngliche, die direkte ohne den Umweg von WhatsApp oder Messenger. Miteinander reden (Gesprächsstoff gibt’s im Laufe des Abends genug, und wenn der aus ist, sitzen links und rechts an der Theke zuvor Unbekannte, mit denen man auch gut ins Gespräch kommt) ist das eine, mit dem Servierten reden geht aber auch. Wie das geht? Das wird im Laufe des Abends und bei den Erinnerungen an ihn danach klar.
Es gibt nur ein Menü im Nobelhart & Schmutzig. Zehn Gänge (80 €), inklusive Brita gefiltertem Wasser (sprudelnd oder still). Die Geizgeilen zählen und nörgeln sicher gleich beim ersten Gang, Spargel vom Spargelhof Syring. Denn was da kommt (das Bild zeigt den einen Teller für zwei Gäste), ist natürlich als Küchengruß gedacht – mit den Fingern in den Mund, möglichst aber vorher noch kurz in die Steinkleemajo gedippt. Und laaaangsam genießen. Und ja: das macht Lust auf mehr, denn es deutet sich hier schon an, was uns dann den ganzen Abend unendliches Vergnügen bereiten soll: die Dinge schmecken nach sich selbst.
So wir das immer beurteilen können, denn manchmal gibt’s Dinge, die wir so noch nie hatten. Zum Beispiel Rapsblüten von Olaf Schnelle. Reflexhafte blöde Frage: „Kann man das denn essen?“ Die erste Antwort geben wir uns selbst: Offensichtlich, sonst würden sie’s ja nicht anbieten. Die Gäste sollen ja wiederkommen! Etwas detaillierter antwortet Küchenchef Micha Schäfer, der erst 27 Jahre jung ist und zuvor in einem Frankfurter 2-Sterne-Haus gekocht hat. Er sagt: „Alles, Du musst nur wissen, wie Du es richtig zubereitest.“ Das sagte er allerdings nicht uns, sondern es steht so in einem Text auf der Getränkekarte. Schäfer ist zwar Chef, fällt im Dreier-Küchen-Team (die anderen Beiden sind Katrin Engelen und Patrick Wodni) am wenigsten auf, trägt die Kochjacke von der Markthalle Neun – Bekenntnis und Understatement zugleich. Oh, da hätte ich doch beim Plaudern fast das Essen vergessen: Ja, kann man machen. Zumal Sauerrahm und Saiblingskaviar dezente Akzente setzten. Und beim Raps nicht nur die Blüten essen, sondern auch die Stängel. Und beim nächsten Rapsfeldanblick nicht nur ans Fotografieren denken, sondern auch an Berlin Kreuzberg!
Mit dem Brot kommt ein Kasten mit Besteck und ein Batzen Butter. Selbst gemacht, Brot und Butter. Hartweizengrieß Sironi Brot & Rohmilchbutter aus Stettin in Polen, entnehmen wir der Karte. Wir schwelgen schon wieder, weil die Butter so ganz anders schmeckt. Sahnig, mir ein bissl zu säuerlich. Aber mit dem knackig-fluffigen Brot genial. „Das Messer behalten Sie bitte während des ganzen Essens!“ hatte unsere Servicekraft gesagt – Löffel und Gabeln könnten wir natürlich immer abgeben, es liegen ja genug im Kästchen.
Billy Wagner, der Gastgeber, wuselt von Gast zu Gast. Wir überlegen, an wen oder was er uns erinnert – und können uns nicht zwischen Rasputin und Grandsignieur entscheiden, bis er kommt – und dann wissen wir: er ist und bleibt der Sommelier, auf dessen Weinempfehlung man sich verlassen sollte. Und so haben wir die Weinbegleitung zum Menü genommen statt aus der (gut sortierten, natürlich) Karte zu wählen. Auch bei der Weinbegleitung gibt es einen Pauschalpreis: 8,50 € pro Glas (o,1 l offiziell – wir hatten den Eindruck, dass wir eher mehr als weniger bekamen). Gleich der erste Wein war ein Statement: Ein Chablis, der so ganz anders schmeckt als das, was wir uns angewöhnt haben zu trinken. Ausnahmewinzer Patrick Piuze liebt es eher knackig, sein 2013 Terroir de Chichée eine kleine Offenbarung an Mineralität und Frische.
Dieser trinkflussfreundliche Wein begleitete Müritz Forelle / Kartoffel / Chicoree von den Müritz Fischern. Das war ein Gang, wo wir die über den Teller geschobene Nase vor dem Essen gar nicht wegbekamen. Was da so leicht rauchig animierte, war aber nicht die Forelle, die mit Joghurtmolke beträufelt wurde, weil die Küche im Nobelhart ohne Zitrone (und ohne Pfeffer, ohne Vanille…) auskommen möchte und so ein bisschen Säure ja manchmal wichtig ist. Nein, der Rauch entfloh dem Kartoffelpürree, das mit der Forelle zusammen gegessen besinnliches Aahh und Oohh entlockte. Der Chicoree daneben: pur, roh – und richtig gut. Es muss nicht immer Kaviar sein.
Gurke / Emmer / Vogelbeere vom Landgut Pretschen sahen wir erst gar nicht, weil da ein Blatt drüber lag, das uns bekannt vorkam, aber dann doch nicht – also was isses? Knoblauchrauke, sagte auf Nachfrage Katrin Engelen, die in der offenen Küche uns am nächsten stand und dann zur Demonstration aus dem Backoffice der Küche gleich einen ganzen Strauch zur Ansicht brachte. Das half, diese Pflanze in den folgenden Tagen gleich mehrfach in freier Wildbahn zu entdecken. Wieder was gelernt. Nach dem Lupfen sahen wir dann den Rest und wollten schon wieder fragen: kann man das essen? Aber da wir die Antwort ahnten, hakten wir diffiziler nach: Sind Vogelbeeren nicht giftig? „Sind sie nicht!“ sagten uns die Köche und weiß auch die Wikipedia. Farblich und auch geschmacklich passte das jedenfalls, unser Aha-Effekt bei diesem Gang war allerdings der Emmer, ein Urweizen. Auf der erst gesalzten und dann nur im Vakuum gegarten Gurke gab er den wunderbar knackigen Gegenpart. Ein 2013 Guiberteau Saumur Blanc begleitete uns bei diesem Gang.
Der nächste Gang barg schon wieder eine Herausforderung, weil es Radieschen / Blutwurst / Petersilie vom Gut Hirschaue gab! Nach Raps und Vogelbeeren kam mir Blutwurst ja gerade richtig: Mag ich nicht, dachte ich. Aber man kann ja mal probieren – und ja, oh ja: Blutwurst kann schmecken! Woran es liegt? Vielleicht daran, dass sie ohne die üblichen Gewürze auskommt, also ohne Zimt und so. Obendrein gab es gebackene Radieschen, mit Stängelansatz, natürlich nicht nur ess-, sondern auch hochgenießbar.
Wir waren ja schon längst im den Schwärm-Modus angekommen und hätten am liebsten den Freund mit den warnenden Worten angerufen. Aber das iPhone hatten wir ja in die Tasche gesteckt. Außerdem hätte man ja noch so viele andere anrufen müssen, beispielsweise um zu berichten, dass wir einen Württemberger Riesling tranken. Angekündigt mit den Worten: „Endlich mal ein Württemberger, den man trinken kann!“ Ein VDP-Ortswein von Jochen Beurer. Ein ausgeprägt mineralischer Riesling von über 35 Jahre alten Rebstöcken, spontan im Edelstahltank vergoren. Eigenwillig gut, aber so soll das ja sein.
Schon vor dem nächsten Gang kam eine kühle Blonde zu uns: Thirsty Lady Blonde Ale von der Brauerei Heidenpeter in Kreuzberg. Warum ein Bier? Weil nichts anderes ging zu Sellerie / Lauch / Rinderfett von Bauer Zielke. Die Theken-Nachbarn zur Linken hatten fürs ganze Essen eine Bierbegleitung, und was wir so mitbekommen haben, klang uffrejend! Fast erwartungsgemäß gibt es nicht diese neumod’schen Biere, aber „es gibt Biere, die waren schon Craft, bevor dieses Label durch die Welt geisterte. Sehr wohl haben wir aber handwerklich hergestellte Biere, die ihre Herkunft widerspiegeln: Weißbier vom Chiemsee oder Pale Ale aus der Markthalle Neun“ –so steht’s in der Getränkekarte. Der entnehmen wir übrigens auch, dass die durstige Lady gerade das Lieblingsgetränk von Billy Wagner sei– wir können das verstehen.
Zurück zur Suppe. Die sieht aus wie die Fastensuppe, die uns manchmal erfreut. Aber sie schmeckt deutlich anders. Konzentriert. Kräftig. Vielleicht die Essenz des Ganzen. Serviert wird das in einer kleinen Schale, in der das Lauch roh und aufrecht steht. Die Selleriebrühe mit dem Rinderfett kommt heiß darüber (ohne einem Service aus der Kanne kommt ja heute kein Restaurant mehr aus), wieder sollte zuerst die Nase ran: Herrlich. Dann löffeln und merken, dass die Nase wie so oft Recht hatte.
Schweinenacken / Zwiebel / Kamille vom Landwerthof fügt sich in der Einfachheit an. In der Geschmackintensität auch. Langsam hatten wir uns ja daran gewöhnt, dass die Dinge so schmecken, wie wir sie meist nicht mehr im sensorischen Gedächtnis haben. Aber das ist ja kein Grund, sich nicht an Geschmack und Saftigkeit zu erfreuen. Und dass es es statt irgendwelchem Chichi lediglich Zwiebeln mit Kamille gab? Ja was denn sonst? Mir fällt da nichts ein. Der Lernzuwachs bei diesem Gang kam vorwiegend beim Wein: 2004 Müllen Kröver Steffenberg Riesling Kabinett. Mit 8,5 Vol% ein wahrer Leichtfuß, aber noch frisch und elegant dank eines ordentlichen Säuregerüsts.
Mit diesem Gang gaben wir die Messer ab, die uns bis hierher so wunderbar begleitet hatten. Will heißen: Die Dessert-Phase begann. Es sind insgesamt drei, wobei das letzte in einer Tüte serviert wird: für daheim. Lustige Idee. Von den Nachspeisen für sofort fanden wir Sauerampfer / Dillblüten von Olaf Schnelle zum Reinsetzen. Das Eis eine Geschmacksbombe, die Dillblüten im Baiser obendrauf ein knabbriges Gedicht. Baiser oben, Chicoreewurzelbrand und Traubenkernöl unten rundeten diesen Gang ab, der sehr nachhaltig in Erinnerung blieb. Auch weil es dazu im Glas wieder blubberte mit einem Glas Foutre d’Escampette – 100 Prozent Chardonnay aus der biodynamisch arbeitenden Domaine de L’Octavin in Arbois im Jura.
Grüner Hafer / Rharbarber von Grete Peschken als zweites Dessert und zweiter Sieger bei den süßen Gängen klingt übrigens viel simpler als es schmeckte. Ein schmelziges Eis, dazu ein sehr verträglich-säuerliches Rhabarberkompott – und dazu eine 1989 Spätlese Wallufer Walkenberg von J.B.Becker aus dem Rheingau. Irgendwie sicher kein Zufall, dass Billy Wagner zum Abschied einen derartig präsenten Wein aus dem Jahr des Mauerfalls servierte…
Das Fazit in einem Satz? Schwer, aber vielleicht so: Wenn der Michelin mich fragen würde, ob das Nobelhart & Schmutzig einen Stern wert sei – würde ich das verneinen. Und mit klammheimlicher Freude zwei geben.
PS: Zu den vielen Kleinigkeiten des Besuchs gehört die Beobachtung, dass vorne auf dem Menüzettel das Team angegeben ist. Was uns gefiel: Es stehen nicht nur die Leute aus Küche und Service drauf, sondern auch der Spüler. Hier sind sie, die uns den vergnüglich-genussvollen Abend ermöglichten: Billy Wagner | Micha Schäfer | Juliane Möller | Katrin Engelen | Patrick Wodni | Maximiliane Wetzel | Samuel Teye-Osom. Danke!
Nobelhart & Schmutzig
Friedrichstraße 218
10969 Berlin
Tel. +49 30 259 4061 – 0
www.nobelhartundschmutzig.com
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