Man wird ja wohl noch mal träumen dürfen. Von einer geschlossenen Schneedecke – nicht hoch, so zehn bis 15 Zentimeter. Aber der Schnee ist ruhig gefallen, dafür gibt es Indizien. Zum Beispiel liegt auf jeder der 14 Sprossen der Leiter so ein Häubchen. Sie kennen die Leiter, Sie wissen auch, wohin sie führt: hoch auf eine Plattform mit Aktenregal, Schreibtisch und Bürostuhl – alles inklusive Schneehäubchen. Verrückt, nicht? Ein Hochsitz mit Büro? Ja, verrückt. Außendienst nennt Frank Kunert das Bild, das Sie kennen: Es ist auf der Einladung zu sehen, die Sie heute hier zu art+form geführt hat.
Willkommen in Franks Wunderland der Unmöglichkeiten! Sie sehen hier heute (und noch bis zum 27. August) Kunerts Kuriositäten-Kabinett, eine Ansammlung von Dingen, die Sie so weder für möglich gehalten haben noch selbst erleben wollen. Aber mit der Distanz des Betrachters bereiten sie dann doch ganz großes Vergnügen – vielleicht, weil ja die klammheimliche Schadenfreude immer noch eine gute Katharsis bereitet.
Frank Kunert ist, wenn ich das in Anlehnung an die Öltank-Werbung mal so grammatisch falsch formulieren darf, drei Künstler. Den einen erleben Sie hier in der Ausstellung: Er ist Fotograf. Nach dem Abitur absolvierte der gebürtige Frankfurter von 1984 bis 1987 eine Fotografenlehre. Als Assistent in verschiedenen Photostudios lernte er weiter dazu – er hat, könnte man sagen, sein Handwerk von der Pike auf gelernt.
Aber was fotografiert er da? Das Leben? Irgendwie ja, man muss nur genau hinsehen. Da ist zum Beispiel diese fein gedeckte Tafel in einem offensichtlich nicht so kleinen Haus. Alles sehr großzügig, da kann man nicht meckern: holzgetäfelte Wände, weißes Tuch auf dem Tisch, es ist für drei Gänge eingedeckt. Die Serviette auf dem silbernen Platzteller, die Kerze zwischen den beiden Plätzen. Gäste sieht man allerdings nicht – wie übrigens überhaupt den Bildern von Frank Kunert eins gemeinsam ist: Sie zeigen keine Menschen, obwohl sie doch immer im Kopfe dabei sind.
Und warum keine Menschen? „In meinen Bildern kommen keine Menschen vor, damit sich jeder selbst da hineindenken kann!“ sagt Kunert. Oha, ob ich das wirklich möchte, immer? Das WC im OG würde ich mir beispielsweise im drängenden Ernstfall gerne ersparen. Sehen Sie sich das Bild mal an, dann wissen Sie warum!
Doch noch einmal zurück zu dem Bild aus dem Jahr 2009. Menu à Deux heißt es, natürlich ein französischer Titel, wenn es ums Speisen geht. Das Menü für Zwei ist allerdings noch nicht vollständig beschrieben, denn die Tafel ist zwar lang, aber sie geht 90 Grad um die Ecke in zwei Teile des Raumes. Wenn die Beiden, die dieses Menu à Deux zu speisen gedenken, sich auf die ihnen zugewiesenen Plätze setzen, sehen sie einander nicht, eine Mauer ist zwischen ihnen. Aber es gibt ja zwei Fernseher, für jeden einen in Sichtachse. Ärger könnte da allenfalls die Kerze bereiten, die genau im Weg steht!
Übertreibt der Künstler da nicht? Na klar tut er das! Die Fernseher, die da auf Biedermeier-Hockern stehen, sind nämlich plumpe alte Modelle. Sowas hat doch heute kein Mensch mehr! Heutzutage hat man entweder viel größere Flatscreens an der Wand – oder viel kleinere Smartphones am Platz. Da muss man nicht mal mehr an einer langen eckigen Tafel sitzen, um sich nichts sagen zu müssen! Das nenne ich mal Fortschritt!
Ach, das Leben! Es ist ja so banal und doch so schön! Und bevor ich die Frage beantworte, wo Frank Kunert seine Motive findet, die er dann so wunderbar im alten Stil inszeniert, mit oft herbstlich-blassen Farben und altem Interieur, nehmen wir uns noch einmal ein verräterisches Bild vor.
Live Übertragung heißt das Foto aus dem Jahr 2012 – aber wie schon beim Speise-Idyll zuvor entdecken wir auch hier das Design, wie es im Westen der Republik Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre hätte passieren können: Echter Perser mit Fransen im Vordergrund, Sofa, Sideboard, Fernseher im Holzdesign mit Blumenvase drauf. Es gibt einen Couchtisch mit sorgsam drapierten Büchern, die obligaten Sitzkissen bereichern das Sofa (obwohl: warum sind die eigentlich nicht mit Handkantenschlag geknickt? Das verstehe ich nicht!), Chianti in der 1,5-Liter-Korbflasche auf dem Sideboard, Trockenblumengebinde in Kugelbauchvase auf dem Fensterbrett. Natürlich Gardinen. So war das damals.
Soweit, so gut, so Kleinbürgeridyll. Irritierend nur, wenn man die nach hinten aus dem Fernseher herausragende Röhre genauer betrachtet. Da ist so ein Schlauch dran, und der führt hoch auf die Galerie unterm Dach direkt in – oh nein: das ist gar kein Kabelschacht, das ist ein Content-Lieferant! Denn oben auf der Galerie befindet sich die Toilette (natürlich mit Ersatz-Toilettenpapierrolle im Häkelmantel!). Und der Abfluss dieser Toilette führt direkt in den Fernseher.
Nun mal ehrlich und unter Missachtung aller politischen Korrektheit bei der Sprachwahl: Wo gibt’s das denn, dass die auf dem Bild wieder einmal nicht anwesenden Coach Potatoes so ein offensichtliches Scheiß-Programm empfangen? Richtig: Nur bei Frank Kunert! Aber noch einmal die Frage: Wo findet er das? Das gibt’s doch gar nicht – also schon so ein Programm, aber doch nicht die Wohnung oder das Haus, wo das sooo deutlich wird!
Sie ahnen es, oder Sie wissen es bereits: Kunert fotografiert die Welt, wie er sie sich gemacht hat. Er baut Modelle, akribisch im Maßstab 1:20. „Als Kind habe ich gerne gebastelt!“ sagt Kunert – und als ihm die Arbeit als Assistent in Photostudios nicht mehr das gewisse Prickeln brachte, besann er sich dessen. Handwerk im wörtlichen Sinn ist das, wenn aus Styroporplatten Mauerwerk entsteht oder aus Käseschachteln ein Fenster. Das Vorbild für diese Modellwelten ist die reale Welt – in einem Fernsehbeitrag der Deutschen Welle sieht man Kunert, wie er mit so einer kleinen Digitalknipse Details in Frankfurt-Höchst fotografiert. Abblätternden Putz, rostige Regenrinnen – man findet derlei Dinge gerne wieder in seinen Inszenierungen, die dann der alten analogen Plattenkamera Modell stehen.
Das alles dauert natürlich seine Zeit, aber das ist auch gut so. Denn in der Langsamkeit liegt viel mehr Kraft als es uns antreibende Chefs und Controller weis machen wollen. Denn neben der Handarbeit steckt natürlich auch ganz viel Kopfarbeit in den Bildern. Der absurde Alltag umgibt uns zwar, aber ihn so zielgerichtet auf den Punkt zu bringen, dass man als Betrachter nicht vor Schreck gleich die Flucht ergreift, sondern sich lieber ins Fäustchen lacht – das ist nicht leicht. Man muss sich allerdings auch als Betrachter Zeit nehmen – nicht ganz so viel, wie der Künstler sie sich genommen hat beim Hirnen, beim Recherchieren, beim Basteln, beim Fotografieren. Aber stehen bleiben und Hinsehen – ganz genau Hinsehen – lohnt sich.
Aber nicht nur die Bilder ansehen, sondern auch die Titel! Wer am Anfang gut zugehört hat, wird sich an die verkappte Öltankwerbung erinnern: Frank Kunert sei drei Künstler, habe ich da nämlich behauptet. Er ist Fotograf, er ist Modellbauer – und was noch? Regisseur, weil er inszeniert? OK, kann man so hinnehmen. Dann aber ist er vier Künstler. Denn den unsagbar seltenen und doch so arg schönen Beruf des Wortakrobaten übt Frank Kunert auch noch aus. Und nun kommt’s: Dank dieses Teilaspekts werden aus vielen der eh schon (pardon:) geilen Modell-Bilder richtig geniale Hingucker.
Beispiele? Gerne: Die heimelig gedeckte Tafel mit dem warmem Licht im Speisezimmer und dem einen Stuhl draußen im kalten Schnee gewinnt natürlich durch den Titel Geschlossene Gesellschaft. Und wenn er, der zeitgenössische Künstler, das Museum of Contemporary Art auf die allseits beliebten und bekannt charmanten Betonklotzsäulen stellt, die Treppen zum Museum aber nicht erdet und das Ganze dann Auf hohem Niveau nennt, dann kann schon Freude aufkommen. Den Außendienst für den verschneiten Arbeitsplatz hatten wir ja eingangs schon: Sprache wörtlich genommen, zu wörtlich allemal, kann die Dinge schon entlarven.
„Fotografien Kleiner Welten“ steht im E-Mail-Abspann des Künstlers, was eine sehr schöne Zusammenfassung mit feiner nahezu britischer Zurückhaltung ist. Die beiden Bücher, die Fotografien aus den Jahren 2001 bis 2007 in Verkehrte Welten und Aufnahmen aus der Zeit 2006 bis 2013 unter dem Titel Wunderland zusammenfassen, sind etwas für triste Zeiten. Einmal drin blättern, und man verfällt sofort wieder in den nachdenklichen Schmunzelmodus. Und bevor jemand fragt: Was Sie hier heute sehen, findet sich im Wunderland, dem neueren der beiden Bände. Die Bücher sind schön, aber sie haben einen Nachteil: Sie geben die Bilder naturgemäß kleiner wieder. Der Vorteil hier und heute: Sie sehen deutlich größere Abzüge. Genießen Sie die Details!
Rede am 19. Juli 2015 zur Vernissage der Ausstellung
Frank Kunert „Wunderland“
Die Ausstellung ist vom 19. Juli bis 27. August 2015 zu sehen bei art + form in Dresden
Die Musik zur Vernissage spielte Krambambuli
Das Foto während der Eröffnungsrede machte Sylke Scholz
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