Wenn eine Ausstellung eröffnet wird – und damit einen guten Abend allen Anwesenden in diesem schönen neuen, historischen Gebäude – gibt es Rituale und Erwartungshaltungen, an die wir uns gewöhnt haben. Normalerweise redet einer eine Rede und lobt den Künstler, was nach meiner leidvollen Erfahrung als Zuhörer aber nur ganz wenige wirklich interessiert. Die meisten warten auf das Ende der sowieso nur schwer verständlichen Worte, die mehr den Redner denn den Künstler aufs Schild des Erhabenen und Wissenden heben. Sie warten, weil erst nach der durchgestandenen Rede das Buffet eröffnet wird und – je nach Ambiente und Grad der Schickimickeria – Schampus, Wein oder Bier fließen.
Haben wir das verdient? Nein, eigentlich nicht. Dennoch haben wir alle hier nicht den Mut, das Ritual völlig zu brechen, denn es muss ja noch Fixpunkte geben in den unruhigen Lebensläuften. Also eine Rede, aber eine kurze. Und eine, die sich vordergründig mehr dem Menschen Grotegut widmet als dem, was Sie hier sehen. Sie sind doch alt genug, sich eine eigene Meinung zu bilden. Oder, noch wahrscheinlicher: Sie haben sich schon eine Meinung gebildet, denn sonst wären Sie nicht hier.
Als ich Einhart Grotegut noch nicht so gut kannte wie heute, da fragte ich mal jemanden, der ihm vertrauter war: „Was ist denn das für einer, der Grotegut?“ – „Das ist“, so die spontane Antwort, „ein Spinner!“ Es war so gemeint, wie ich es verstanden hatte: Liebevoll. Denn nur einer, der quer zu denken in der Lage ist, der die Dinge verrückt sieht, nur so einer ist in der Lage, Kunst aus scheinbar Banalem entstehen zu lassen. Sesselfurzer, wenn Sie diesen rüden Ausdruck verzeihen, haben noch nie die Welt verändert. Und so einer war der Einhart nie, denn er hat einen eigenen Kopf und macht sich so seine Gedanken.
Wann das losging mit dem eigenen Denken, das lässt sich naturgemäß nur schwer festmachen. Die einschlägigen von ihm selbst gestreuten Texte lassen vermuten, daß es schon relativ früh seinen Anfang nahm: In seiner Heimatstadt Königstein im Klub Junger Historiker, so kann man lesen, sei der Grundstein zu dem gelegt, was ihn Jahre später in seinen Bildern und Skulpturen so unverwechselbar machen wird: Die Verbindung von Geschichte mit Kunst. Wir wollen es glauben, erwähnen auch gerne, der historischen Wahrheit verpflichtet, dass der 22jährige Einhart als Student der Architektur an der TU Dresden so richtig zu zeichnen begann. Dass aus veritablen Architekten wilde Künstler werden, das hat man in Dresden ja schon mal gehabt. So gesehen ist Grotegut Traditionalist mit dickem Kopf und eigenen eigenwilligen Ansichten. Und die hat er dann in aller Verrücktheit und liebenswerten Spinnertheit umgesetzt – ohne je zu leugnen, wo er herkommt.
Können Sie sich vorstellen, wie jemand flucht, der dieses Jucken verspürt und seine Ideen, seine Gedanken bildnerisch ausdrücken möchte – und eine Plattenbausiedlung im Architekturbüro der Stadt konzipieren soll? Können Sie, okay. Aber kennen Sie die einfache Lösung für die Schizophrenie, die Sie zwischen Kunst und Sozialismus ereilen kann? Schublade heißt die Lösung: In der nämlich wuchsen, wenn es auf dem Reißbrett zu öde wurde, die ersten Werke des Künstlers Grotegut heran.
Um ein reichlich gewagtes Bild zu probieren: Ein Schlitzohr mit dem Schalk im Nacken entwickelte sich da; ein Mensch, der zu denken sich traut, entwickelt pragmatisch-liebevoll-zynische Züge, um das eigene geistige Leben zu retten.
So etwas prägt, wenn auch manchmal unbewusst. Heute, Jahre später und ein Gesellschaftssystem weiter oder zumindest anders, holt die Vergangenheit ihn wieder ein. Und merkwürdig genug: Die beiden Seiten haben sich versöhnt, haben den dritten Weg gefunden und sich dankenswerterweise nicht bei Plattenbauten, sondern bei historischen Gemäuern getroffen: Da ist der Künstler Grotegut, der im Laufe der vergangenen Jahre einen ganz eigenen Stil entwickelt hat, der aus Fundstücken, Archivalien und Kulturerden verdichtete Geschichte komponiert. Der sich weiterentwickelt und seit neuestem nach Wasser, Luft und – faszinierend genug: Erde – das fehlende Element Feuer zum fast prägenden Element seiner jüngeren Werke macht.
Aber da ist auch der gelernte Architekt und geübte Historiker, der sowohl über ein objektives als auch über ein interpretierendes Auge verfügt und Bestandsaufnahmen zeichnet, die ein Computer so liebevoll und individuell nie hinbekäme. Zwei Herzen wühlen also, ach, in seiner Brust: Der Künstler, der sich austobt und gehen lässt, und der akkurat zeichnende Architekt.
Was er lieber tut, ist gar keine Frage, was er häufiger macht – machen muss der schnöden Kohle wegen – auch nicht. Aber in Wirklichkeit braucht er den Stress des Geldverdienens, denn er holt sich auch da Anregungen. Und nicht zu verachten: Was Grotegut für Geld macht, tut uns allen sehr gut: Ob hier in Stolpen oder auf dem Weesenstein: Den schönsten Ausstellungsräumen dort und anderswo merken Sie die grotegutsche Handschrift an.
Worin liegt das Geheimnis des Einhart Grotegut? Dem wollte ich jüngst bei einem Atelierbesuch in seinem Haus im Dresdner Stadtteil Briesnitz auf die Spur kommen. Da gehen Sie also in diesem wunderschönen alten Haus – das Historische lässt ihn nämlich nie wirklich los… – in den Raum, wo alles stattfindet. Und was sehen Sie? Unmengen von Zeugs. Grotegut ist ein leidenschaftlicher Sammler, der nichts wegwerfen kann. Was er findet, sind Spuren vergangener Tage, reicht mal nur wenige Jahre, häufig aber Jahrzehnte und manchmal sogar Jahrhunderte zurück. Diese Kleinode liegen am Wegesrand, am Elbufer, auf Dachböden und in Gewölbekellern. Immer häufiger aber arbeitet sich Grotegut in die Erde und somit in die Vergangenheit ein. Er gräbt sich durch die Schichten, aber anders als ein Maulwurf ist er nicht blind. Er sieht und – dies vor allem – er versteht zu deuten.
Groteguts Bilder sind häufig Collagen. Sie wiederspiegeln das, was in der Natur auch passiert: Schichten überlagern sich, Neues bedeckt Altes und das wieder noch Älteres. „Was man dann sieht“, sagt Grotegut, „sind keine großen Meister. Das sind Alltagsgeschichten!“
Der Erzähler Grotegut greift dabei gerne auf schon einmal Erzähltes zurück: Alte Kirchenbücher und alte Rechnungen liegen massenhaft im Atelier und bilden die Grundlage vieler Bilder. Beinahe hätte ich Ihnen jetzt verraten, womit er diese Dinge eintüncht – aber da müssen Sie schon ein wenig forschen, um das rauszubekommen. Also er werkelt herum, greift hier in einen Topf und da in einen anderen und behauptet glatt, dass er schon sehr früh eine Vorstellung von dem habe, was da im Entstehen begriffen ist. Freilich gibt es auch Abweichungen vom Weg, der ausnahmsweise nicht das Ziel ist.
Derzeit entstehen sehr elementare Bilder – im wahren Wortsinn: Wasser und Luft sind für einen Maler nichts Besonderes, Erde ist schon ungewöhnlich, in jüngster Zeit kommt das Feuer hinzu: Grotegut brennt Löcher, pustet und löscht mit eben jenem Nicht-verraten-Zeugs. Asche bleibt Bestandteil des Bildes, hinterläßt Spuren, wenn der Pinsel das Feuer erschlägt.
Grotegut simuliert den Alterungsprozeß. Was andere oder er selbst auf Dachböden unter Planken oder Archäologen in der Erde finden, sieht sehr ähnlich aus, entstand aber natürlich und in erheblich längerem Zeitraum. Hier wie da schlagen alte Dinge durch – „und selbst, wenn du eine Schicht wegnimmst, bleiben Spuren und Konturen und sagen dir: Da war mal was!“ Sagt Grotegut.
Zwei Dinge noch zum Schluss, bevor es an die eingangs erwähnten feineren Teile des Ausstellungseröffnungsrituals geht. Erstens: Einhart Grotegut sieht immer sehr ernst aus, wenn er sich ablichten läßt. Nicht irritiert sein – er ist es nicht. Er ist einer der lustigsten Menschen, die ich kenne – und ich kenne viele lustige. Ich könnte jetzt die Geschichte mit der Wacholderbeere erzählen, unterlasse das aber, weil Sie die nachlesen können in den TaschenbergNews. Das ist die Kundenzeitschrift des Dresdner Kempinski Hotels, die zu gestalten und zu schreiben ich die Ehre habe. Auf Seite acht steht ein Beitrag über Einhart Grotegut.
Und damit zweitens: Der Artikel steht dort, weil Grotegut seine nächste große Ausstellung am 30. April in der Hauskapelle des Taschenbergpalais eröffnen wird. Das wird, aus gegebenem Anlass an jenem Tag vor dem ersten Mai, so eine Art Bilanz der ersten 45 Jahre grotegutscher Kunst, zu der ich Sie schon jetzt einladen darf. Aber zuvor: Viel Spaß hier im Kornhaus bei den zwei Seiten Groteguts.
Rede zur Eröffnung der Personalausstellung „Zwei Seiten“ im Kornhaus der Burg Stolpen am 3. April 1998
Hinterlasse jetzt einen Kommentar