[UVS hält sein Fotohandy weit von sich gestreckt und fotografiert dreimal in die Runde…]
Die Fotografie ist auch nicht mehr was sie einmal war!
Überall rennen sie herum, mit ihren Handies und kleinen Digitalkameras – und sie strecken sie weit von sich, so als ob sie am liebsten nichts mit dem zu tun hätten, was sie da gerade machen!
Dabei lieben sie es, sich gegenseitig zu knipsen. Erinnerungen in unscharfen 640 mal 480 Pixeln aus der Mobilquatsche und in völlig überdimensionierten 7,2 Megapixeln vermüllen die Festplatten. 8.644 Digitalkameras bei Ebay heute Nachmittag, darunter Wahnsinnsangebote mit „Scharfstellung TTL CCD AF !!!“, falls Sie wissen was das ist – ich weiß es nicht. Und „sämtliche Profi-Standards wie JPEG, MPEG, EXIF, DPOF, DCF ….“ beherrscht dieses Topmodell auch noch, und das alles für 76,77 Euro, Mehrwertsteuer inklusive. Ja, und ist es denn die Possibility? Nacktaufnahmen sind im Preis inbegriffen! Oh, sorry, nein, peinlich: Da habe ich mich freudianisch verlesen: Es war der Nacht-Modus – einer von vielen, die uns das Leben vereinfachen sollen, es aber in Wahrheit nicht wirklich tun. Und auch die „in spitzen Bild und TON Qualität“ beworbenen Eigenschaften sind eher pseudo-objektiv und haben nichts, aber auch gar nichts mit Fotografie zu tun, wie wir sie hier sehen.
Dirk Jesse hat erstens eine andere, wohl auch teurere Kamera, die er zweitens meistens im innigen Körperkontakt ans Auge drückt und mit der er – nun kommt’s! – Bilder macht, die gar keinen spitzen Ton erzeugen. „Oooh!“ werden Sie da sagen, und das mit Recht. Der traut sich was! Ich verrate Ihnen nun sogar noch ein Geheimnis: Die Bilder in der teuren Kamera sind, solange sie da drin sind, noch gar nicht die, die Sie hier sehen! Es sind nur die Grundlagen.
Verwirrt?
Dann will ich das einmal versuchsweise entwirren.
Ein Jesse-Bild besteht nämlich aus verschiedenen Zutaten. Fangen wir ganz vorne an, dann ist da das Motiv. Wenn Sie sich umsehen, werden Sie vieles erkennen: Die Kuppel der Frauenkirche, die Stühle der Filmnächte am Elbufer, den Zwinger, eine Straßenbahn-Haltestelle. Anderes erschließt sich nicht auf den ersten Blick, was aber nichts macht: Ein Mähdrescher irgendwo, eine Statue anderswo, ein Bollerwagen hier, Füße im Sand da: Die Motive sind nicht wirklich ungewöhnlich, die Art sie ins Bild zu setzen schon. Fotos, gute Fotos allemal, sind inszeniert, sind arrangiert und mit dem Auge des Fotografen festgehalten. Was für eine Kamera der in der Hand hat, spielt letztendlich keine Rolle: Den guten fotografischen Blick hat man auch ganz ohne Kamera – und wer kann, malt daraus dann eventuell ein Bild auf Leinen. Oder fotografiert, mit welcher Technik auch immer.
Dirk Jesse hat als Werkzeug eine Digital-Spiegelreflex-Kamera gewählt, und er nutzt die Technik gekonnt. Mit unterschiedlichen Brennweiten schafft er Weite wie beim erwähnten Mähdrescher (Nummer 38: Landarbeit) und Nähe wie bei einer Rosen-Nahaufnahme (Nummer 21: Älter werden). Mit unterschiedlich langen Belichtungszeiten und einigen Tricks veranschaulicht er Bewegung und bringt gerne Farbe ins Dunkle der Nacht (unbedingt ansehen: Nummer 36 – mit einem geisterhaften Co-Fotografen!). Mit ungewöhnlichen Perspektiven eröffnet er Sichtweisen, die sich unsereinem sonst nicht bieten (Nummer2: Blick nach oben).
Das also war die erste Zutat: Das gute Auge und eine ordentliche Technik.
Nun haben wir das Bild im Rohzustand, und es ist wie ein Fisch im Rohzustand: Ganz nett, aber außer zu Sushi nicht zu gebrauchen. Der Fisch. Wir kommen somit zum eigentlichen Geheimnis von rund 99 Prozent der Bilder: Sie sind nachbearbeitet. Das ist nichts Unanständiges und das hat es schon immer gegeben, sogar schon vor der Fotografie. Canaletto, der uns so viele herrliche Panoramabilder von Dresden und Umgebung geliefert hat, war ein begnadeter Schummler, der mit seiner Camera Obscura die Wirklichkeit einfing und sie dann nach seiner Lust und zum Ergötzen der Betrachter idealisierte. Der Turm auf der Hofkirche beim berühmten Canalettoblickbild ist beispielsweise reine Phantasie, denn die Kirche war 1747 im Bau und hatte beim Malen noch gar keinen Turm. Der wurde erst zwischen 1752 und 1755 gebaut, weil der Baumeister Chiaveri nichts mehr mit den Dresdnern am Hut haben wollte – aber das ist eine andere Geschichte. Da zu einer veritablen Kathedrale aber ein Turm gehört – montierte Canaletto ihn ins Bild. Eingerüstet zwar, aber dennoch falsch: Er wurde später anders als ursprünglich geplant errichtet. Mit den Farben und Lichtverhältnissen sind derlei Freiheiten genau so selbstverständlich passiert – Maler haben es da sowieso leichter als Fotografen!
Wobei die Fotografen aufholen, denn die digitale Dunkelkammer ist der Computer und dort in der Regel, dies für die Kenner, das Programm Photoshop. Das ist so eine Art Toyota, denn nichts ist dem Photoshop unmöglich – und Dirk Jesse nutzt das zu unser aller Vergnügen aus. Rote Ampelmännlein in Schwarzweißbildern sind eine nachvollziehbare Spielerei, andere Dinge merken Sie nur, wenn Sie versuchen, selbst so ein Bild hinzubekommen. Das klappt nämlich nicht! Erst die korrekte Anwendung der verschiedensten Möglichkeiten, die das Programm bietet, macht aus einem Knipsbild ein künstlerisch anspruchsvolles Foto.
Dirk Jesse weiß das, und er kokettiert auch ein wenig damit: Beim (nun schon das dritte Mal zitierten!) Mähdrescher-Bild hat er die Decke in seinem Fotoblog – über das ich dann gleich noch einmal ein wenig sagen muss – ein wenig gelüftet, dabei aber gleichzeitig das Licht ausgemacht, so dass man hinterher so schlau war wie zuvor und nur merkte: Aha, da steckt Arbeit hinter!
Wahrscheinlich gegen seinen Willen zitiere ich einmal Dirk Jesse – da muss er jetzt durch!
- „1. Originalfoto, Belichtungssituation 1. Vordergrund (Feld) korrekt belichtet.
- 2.Belichtungssituation 2. Der überbelichtete Himmel wird ersetzt. Die bessere Strukturierung wird durch eine Belichtungskorrektur um -2.0 Stufen im RAW-Plugin erreicht.
- 3.Tonwertkorrektur. Der Grünstich wird korrigiert, gleichzeitig wird der warme orange/braun-Ton erzeugt.
- 4.Curves Korrektur 1. Globale Kontrast-Korrektur, vor allem der unterbelichteten Bereiche.
- 5.Kanalmixer. Der Blau-Kanal wird gezielt abgedunkelt, um den Effekt des Polfilters (kräftiger, kontrastreicher Himmel) trotz Gegenlicht zu erzeugen.
- 6.Curves Korrektur 2. Über die Gradationskurven wird der Bildkontrast im Vordergrund lokal angehoben, damit der Staub im Sonnenlicht mehr zur Geltung kommt.“
Alles klar? Ich muss sagen: Mir kamen beim Lesen die Dörfer immer böhmischer vor und trotz leidlicher Kenntnis von Photoshop verstand ich nur noch Bahnhof. Aber da ich Phase eins, das Originalfoto, gesehen habe, kann ich sagen: Ohne diesen Aufwand wäre das eine ziemlich belanglose Aufnahme geblieben. So ist es ein Hingucker!
Wir lernen also: Zutat zwei ist das Wissen um die Geheimnisse der effektvollen Bildbearbeitung, die Ihnen den Himmel je nach Wunsch blau und rot macht, nötigenfalls im gleichen Foto. Kunst, das wissen wir ja aus einem alten Kalauer, kommt von Können und nicht von Wollen – sonst hieße es ja Wunst…
Vorhin habe ich etwas erwähnt und angedroht, darauf noch einmal zurück zu kommen. Es ist dies das Fotoblog. Sie müssen nicht traurig sein, wenn Sie nicht wissen was das ist. Es ist auch so ein neumodischer Kram im Internet. Der eine (oder auch die eine, je nachdem!) veröffentlicht dort mehr oder minder regelmäßig Bilder – und das Schöne ist: Alle Welt kann sich das ansehen und auch mitreden. Und da beginnt dann das Internet Spaß zu machen, denn auf diese Art und Weise lernt man Menschen kennen, die man sonst nie getroffen hätte.
Dirk Jesse hat – soll ich sagen: natürlich? – ein Fotoblog. Es heißt Staring at the Sun, nach einem alten Titel der irischen Popgruppe U2. Als Fotomaniac, der er ist, hat er sich in anderen Fotoblogs herumgesehen, dort seine Kommentare hinterlassen und so Leute auf sich aufmerksam gemacht. Mittlerweile kennen ihn viele Fotoenthusiasten weltweit – und sie kommentieren seine Fotos. So entstehen schöne Dialoge, und das in einem eigentlich einseitigen virtuellen Medium: Die hier gezeigte Nummer 36, das Elbenachtbild mit dem geisterhaften Fotografen, zum Beispiel:
- „This is fantastic! The landscape by itself is very interesting, but the ghosted photographer is genius. Darren [South Florida USA] | 06.07.2005 / 03:18
- Genius is right! How did you do this without showing him enter or leave the image? Incredible piece. Donna Lee Michas [New York City] | 11.07.2005 / 16:10
- lovely effect! the water is beautiful as well. Tuan [Darwin Australia] | 12.07.2005 / 09:09
- @Donna Well, this was my mistake. I asked Jürgen not to move for about 10 seconds. But I did select a wrong aperture that did lead to a longer exposure. And expectedly he stood up at „half time“. Dirk [Dresden] | 12.07.2005 / 18:17
- Tolles Bild! Ohne den „Geist“ wäre es ein Foto, wie viele andere. Gut, aber nichts besonderes. Aber so ist es zu etwas besonderem geworden. Wirklich schön. Ralf [Bielefeld] | 13.07.2005 / 20:14
- märchenhaft. grete [Dresden] | 15.07.2005 / 19:33
- Wow that is a really really freaking great shot. I love coming here there is always something interesting to see. maverick [seattle, wa] | 21.07.2005 / 02:35
Sieben Kommentare, davon einer als Antwort von ihm – mehr Zeit haben wir hier ja nicht. Es gibt auch Aufnahmen, die es auf knapp 20 Kommentare bringen. Da wird die Welt klein und man kann – so man englisch spricht – nett miteinander plaudern. „Viele loben mich in den Kommentaren nur“ hat Dirk einmal in einem Interview auf der Seite der deutschsprachigen Fotoblogger-Gemeinschaft blimage.de bedauert. Fürs Meckern habe er seinen großen Bruder, manchmal muss er auch mich ertragen und gelegentlich sicher auch seine geduldige Freundin, von deren Zeit ja die Arbeit an den Fotos abgeht. Wenn sie sich gar nicht mehr zu helfen weiß, spielt sie eben Model, das ist immer noch besser als Stativ schleppen!
So, meine Damen und Herren – fast geschafft. Zwei Sätze noch!
Der erste: Alle diese Bilder können Sie kaufen, wenn sie Ihnen gefallen – Details bitte den ausliegenden Flyern entnehmen, oder fragen Sie den Fotografen.
Und der zweite kommt aus dem unsäglichen Angebot, das auch Stoff für die Einleitung lieferte: „Bleiben Sie mit einem großen Speicher flexibel und halten Sie jeden Moment für die Zukunft fest.“
Ulrich van Stipriaan
Rede zur Vernissage von „Staring at the Sun – Bilder von Dirk Jesse“
am 15. September 2005 in den Räumen der Firma Linde-KCA-Dresden GmbH
Hinterlasse jetzt einen Kommentar