„Deutschland ist reich an Volksliedern“, schreibt Mark Twain in seinem Bummel durch Europa. Text und Melodie von einigen findet er „von eigentümlicher Schönheit – die Loreley jedoch ist beim Volk am allerbeliebtesten.“
Gut beobachtet – wenn auch heutzutage die Japaner mehr von dem Lied zu wissen scheinen als die Deutschen. Jedenfalls sieht man die Touristen aus dem fernen Osten bei Rheinfahrten immer sehr verständnisvoll nicken oder hört sie gar mitsingen, wenn aus den Lautsprechern der Rheinschiffe die entsprechende Melodie ertönt. Und – jede Wette – bei einer Straßenumfrage kämen sicher manch tolle Autoren-Nennungen heraus, denn wie es sich bei so einem populären Stück gehört, gerät der Dichter schnell in Vergessenheit.
Bevor Sie schlimmstenfalls falsch raten, verraten wir es: Heinrich Heine hat den Text geschrieben und dabei von seinem Recht auf dichterische Freiheit gleich einmal kräftig Gebrauch gemacht: „Ein Märchen aus uralten Zeiten / das kommt mir nicht aus dem Sinn“ reimte er vor gut 150 Jahren. Dabei wußte er es sicher besser: Erstens ist das kein Märchen, und schon gar nicht ist es uralt. Die Geschichte der Loreley ist nämlich eine Kunstsage, die Clemens von Brentano geschrieben hat – wahrscheinlich 1799.
Die Loreley spielt an der Rheinenge von St. Goar und St. Goarshausen – mithin an einer Stelle des Rheins, die im Bereich zwischen Bingen und Koblenz die Gemüter der Besucher schon in Wallung versetzen kann, weil es dort schlicht und ergreifend so schön ist, daß man gar nicht anders kann als in Jubelrufe auszubrechen. Wer will es da romantisch veranlagten Leuten verübeln, daß sie ins Schwärmen geraten und ihrer Phantasie freien Lauf lassen?
Der „Lorleberg“ oder „Lurleberg“ ist ein gar nicht so hoher Schieferfelsen – 132 Meter über dem Strom. Der Name deutet schon darauf hin, daß es mit ihm etwas besonderes auf sich hat: „Lur“ steht nämlich für Elfen, dämonische Wesen oder Zwerge. Die sollen in dem Berg ihr Wesen getrieben haben (oder immer noch treiben). Weniger spannend ist der Bestandteil „Ley“ im Namen: damit ist Schieferfelsen oder Klippe gemeint. Für Rheinländer ist das ein ganz geläufiger Begriff, der öfter vorkommt (Erpeler Ley, Domley und andere).
Der Lorleberg, also die Loreley, wird im 13. Jahrhundert schon einmal in der „Kolmarer Meisterliederhandschrift“ erwähnt, und ein schwäbischer Dichter vermutet zur gleichen Zeit, daß der Schatz der Nibelungen im Lurleberg versteckt sei (wobei man freilich sagen muß, daß dieser Schatz eigentlich überall sein könnte – leider hat ihn nur noch kein Mensch irgendwo wirklich gefunden!).
Zurück zur Sage von der Loreley: Die Dame, die man sich bitteschön recht blond und äußerst hübsch vorstellen muß, war in ihren sagenhaften Anfängen noch ein komplettes Mädel, verlor dann allerdings im Lauf der Zeit wesentliche Teile ihres Körpers und wurde zur Nixe. Als solche kommt sie, oben hübsch und unten Fisch, auf neueren Darstellungen zur Geltung.
Das äußerst ansprechende Wesen mit den wallenden blonden Haaren ist allerdings nur ein Teil der Loreley – sozusagen der vorzeigbare. Die Dame (pardon: Nixe) aus der Sage hatte indes noch eine andere Eigenart – und die war es letztlich, die sie so sagenhaft berühmt gemacht hat: Sie sang. Und zwar so wunderbar klagend, daß die Rheinschiffer vor lauter Verzücktheit die Hände vom Steuerrad nahmen und deswegen die an dieser Stelle üblichen Stromschnellen nicht so recht meistern konnten. Die bittere Folge davon war, daß sie dem wunderbaren Gesang nie mehr lauschen konnten, weil sie ertranken.
Besonders Graf Hermann, der Sohn eines gewissen Grafen Bruno, war von der Loreley sehr angetan – er war, was man einem Zwanzigjährigen getrost zugestehen kann, schwer verliebt in sie. Die Sache hatte allerdings einen Haken: Er hatte sie noch nicht gesehen. Was aber will ein Verliebter? Natürlich nichts sehnlicher als das Mädchen seiner Träume kennenlernen. Also zog er los. Damals waren die Zeiten noch so, daß er sich eine Zither mitnahm, um seinem Mädchen eine Melodei zu spielen. Und dabei wollte Hermann natürlich singen.
Eines Abends sah er sogar seine Nixe – was ihn allerdings so in Verzückung versetzte, daß er prompt zuerst die Fassung und dann die Zither verlor. Anschließend, sagt man, verlor er auch noch den Verstand und lief träumend durch die Landschaft. Das wiederum sah Vater Bruno nicht gerne und schickte seinen Sohn in ein Feldlager (auch so eine Sitte, die man sich heute nur noch schwer vorstellen kann!).
Hermann war zwar durch die Lore zum Tagträumer geworden – aber er fand die Weisung seines Vaters schon in Ordnung. Nur einmal, meinte er, müsse er noch die Lore besuchen gehen, sie noch einmal sehen, ihr noch einmal seine Lieder darbringen.
Das tat er auch, und zwar in Begleitung eines Dieners. Der bekam es mit der Angst, weil – wie es sich für so einen Romantiker-Stoff gehört – das alles des Nachts passierte und der Mond schien und die Landschaft im Mondenschein sehr wild und gespenstisch aussah. Und dann mitten auf dem Rhein im kleinen Boot allein – man kann die Angst verstehen.
Doch obwohl der Diener lieber einen kleinen Landgang unternommen hätte, kannte Graf Hermann nur eins: Er wollte singen. Und also sang er seiner Geliebten ein Liedchen, worin er kund und zu wissen tat, daß er so gerne bei ihr sei und immer an ihrem Mund hängen würde und ihr lauschen und überhaupt – aber das hätte er besser sein gelassen.
Denn kaum war das Lied verklungen, da erschien das Blondchen und entpuppte sich als gar nicht so nettes Wesen. Es gibt großes Getöse. Die Nixe winkt, das Wasser teilt sich. Das Boot wird auf einen Felsen geschleudert, der Diener an Land geworfen (wo er ja sowieso hinwollte), und der junge Hermann verschwindet in der Tiefe (wo er, streng genommen, nach den Versen seines Liedchens ja auch hinwollte).
Die Loreley hat man seitdem nicht mehr gesehen. Gelegentlich aber hört man sie noch. In Vollmondnächten im Frühling, sagen die Schiffer der Gegend, könne man den sirenenhaften Gesang genau vernehmen…
Geschrieben 1988/89,
1996 zu Weihnachten als Geschenkband erschienen. Grafik von Einhart Grotegut.
Sagenhaft – 12 Sagen. Nacherzählt von Ulrich van Stipriaan.
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