Das Ereignis erregte seinerzeit enormes Aufsehen: Klaus Störtebecker, Chef der Piraten und scheinbar unbesiegbar, soll geköpft werden! Und mit ihm 72 seiner Kumpanen – die ganze Piratenfirma „Störtebecker & Co“ auf einen Schlag! Versammelt sind auf den Weiden des Grasbrooks – die sind in Hamburg, ungefähr da, wo heute die Speicherstadt steht – die Herren Seeräuber, der Scharfrichter Rosenfeld, diverse Ratsherren, etliche Ehrengäste und jede Menge Volk. Ein grandioses Schauspiel – vor allem zu Zeiten, an denen es mangels Technik überhaupt gar kein Fernsehen gab.
Aber die Leute haben auch um 1400 herum ein Anrecht auf Nervenkitzel – und Klaus Störtebecker weiß, was er dem Volk schuldig ist: „Gewährt mir eine Bitte!“ spricht er Meister Rosenfeld an, der sein Richtschwert schon liebevoll streichelt. Was das wohl sein mag? Nun, ganz einfach: Der Herr Störtebecker würde gern, nachdem man ihm einen Kopf kürzer gemacht hat, noch ein wenig lustwandeln. Ob es denn möglich sei, dass man all seinen lieben Kollegen das Leben schenken könne, an denen er so kopflos vorüberginge?
Meister Rosenfeld sieht den Senat an – die Herren nicken mit dem Kopf (wer hat, der hat…). Was kann schon schiefgehen?
Im Prinzip nichts, wohl wahr. Aber der Störtebecker ist eben nicht nur ein grandioser Trinker („Stürz den Becher“), sondern auch auf anderen Gebieten ein ganzer Kerl. Nachdem nämlich Meister Rosenfeld sich seiner Aufgabe erledigt hat, steht Störtebecker vom Richtblock auf und geht tatsächlich los. Wer weiß, wieviel seiner Kumpanen der Teufelskerl noch gerettet hätte, wenn der Henker sich nicht bei seiner Berufsehre gepackt gefühlt hätte: „So nicht!“ zischte Rosenfeld und stellte Störtebecker ein Bein – was ja besonders hinterhältig ist, weil Kopflose sowieso Krüppel ihr Leben lang sind und außerdem überhaupt nicht sehen können.
Da war es dann endgültig vorbei mit dem Klaus Störtebecker. Die Sage, die von diesem wunderbaren Ereignis berichtet, erwähnt dann noch, daß die Herren vom Hamburger Rat selbstverständlich zu ihrem Versprechen standen und die elf Kollegen Seeräuber nach der wunderbaren Tat ihres Chefs am Leben ließen.
Vielleicht war es aber auch ganz anders. Vielleicht hat der Scharfrichter ja auch sein Beil nach dem noch munter weiterspazierenden Störtebecker geworfen. Vielleicht ist der aber auch gar nicht mehr gelaufen, sondern blieb (wie bei frisch Geköpften nicht unüblich) einfach tot liegen. Aber dann wäre diese Sage recht langweilig – und sowas erzählt doch keiner weiter.
Tatsache ist jedenfalls, dass überhaupt Leute auf dem Grasbrook hingerichtet wurden. Leider weiß man nicht so genau, wann das war: Ob 1401 (wahrscheinlich) oder 1402 oder 1400. Auch der Tag steht nicht fest – auch Zeitungen waren eben seinerzeit noch nicht erfunden und das Fernsehen ja – wie erwähnt – sowieso nicht. Und wenn es nicht den Abdecker Knoker gegeben hätte, dann wüssten wir sozusagen gar nicht ordentlich Bescheid. Doch weil Knoker für das Einscharren von 73 Seeräubern aus der Hamburger Stadtkasse Geld bekommen hat, ist der Fall aktenkundig geworden (woran man sieht, dass – wenn alles andere nicht hilft – eine ordentliche Stadtverwaltung auch von enormem Nutzen sein kann).
Soweit Störtebeckers Ende. Die Zeit davor war auch schon ganz schön spannend: Geboren an mindestens 21 Orten (wenn man alle verfügbare Literatur berücksichtigt), wahrscheinlich aber doch nur in einem – entweder Wismar oder Halsmühlen bei Verden an der Aller. Die Verdener werben sogar mit dem Störtebecker und lassen es sich was kosten: Seit 1602 zahlt die Stadt am Montag nach Lätare (drei Wochen vor Ostern) das „Störtebecker Heringsessen“ – es erinnert an ein Essen, das der wohltätige Pirat einmal gespendet haben soll.
Bevor Klaus Pirat wurde, soll er ein Landedelmann gewesen sein, der schon als Knabe durch unkonventionelle Taten auffiel. Nachdem ein örtlicher Wirt den aufwachsenden Störtebecker einmal schwer geärgert hatte und Ritterrüstung nebst Schwert als Pfand behalten wollte, weil der junge Herr gerade nicht zahlen konnte, beschloss Klaus: „Ich werde Seeräuber!“
Das war seinerzeit ein zwar nicht allseits anerkannter Lehrberuf, aber man konnte es ziemlich weit bringen – zumal einige unbedeutende Landeshäuptlinge gerne Seeräuber anheuerten, um ihre eigenen Privatfehden eleganter lösen zu können.
Keno ten Broke ist so ein Häuptling. Er hat eine hübsche Tochter, die es dem Störtebecker angetan hat. Und er ist nicht irgendwer, sondern der Chef von Marienhafe – einem Ort in Ostfriesland, der anerkannt unwichtig ist und nur durch einen massig dicken und nur 35 Meter hohen Kirchturm auffällt. Aber im 14. Jahrhundert lag Marienhafe noch an der Nordsee, und der Kirchturm war einige Meter höher – wie überhaupt St. Marien ein stattlicher Dom war, Ostfrieslands größte Kirche. Im Turm hatte Störtebecker sein Winterquartier.
Ein angemessenes Quartier, wo doch das Motto der Liekedeelers (weil sie angeblich alles untereinander gleich aufteilten) „Gottes Freund und aller Welt Feind“ lautete.
Störtebecker und seine Kumpel Godeke Michels und der Magister Wigbold waren zwischen 1394 und 1399 auf der See vor Ostfriesland unterwegs und haben angeblich reichlich Beute gemacht – das übliche: Gold, Gold, Gold. Soviel, dass sie es gar nicht ausgeben konnten – zumal es damals an Bord noch nicht so segensreiche Erfindungen wie beispielsweise einen „Duty Free Shop“ gab.
Also verschenkten die ehrenwerten Herren ihre Beute – die Sage zumindest sieht in Störtebecker so etwas wie den Robin Hood der Meere. Wenn gerade keiner zum Schenken da war, versteckten sie alles. Auch hier berichtet die Sage von etlichen Orten – leider ist bisher noch keine solche Stelle gefunden worden.
Wie auch immer, ob schenken oder verstecken: Die richtig ehrbaren Kaufleute und Seefahrer der Hanse waren es leid, ihre Waren nicht gefahrlos übers Meer transportieren zu können und hielten am 2. Februar 1400 auf ihrem Hansetag in Lübeck fest, dass sie „finster entschlossen sind, etwas gegen die Piraten zu tun!“
Das ist der Anfang vom Ende. Simon von Utrecht ließ für fünfundneunzigeinhalb Pfund und fünf Schilling ein Schiff bauen: Mit der „Bunten Kuh“ legten die Pfeffersäcke aus Hamburg den ehrwürdigen Piraten das Handwerk…
Geschrieben 1988/89,
1996 zu Weihnachten als Geschenkband erschienen. Grafik von Einhart Grotegut.
Sagenhaft – 12 Sagen. Nacherzählt von Ulrich van Stipriaan.
Danke für ein paar vergnügliche Minuten – wusste gar nicht, dass du so ein guter Vorleser bist!
Wäre nur gut, wenn bei der Aufnahme in den Sprechpausen das „Ducking“ nicht so deutlich wäre, sondern noch ein bisschen was (ein Rauschen?) zu hören bliebe…
ich übe ja noch! vor allem bearbeitung von sound-dateien…