Wir wollten ins Valle della Roja, das auf Vulcano zu den schönsten und aufregendsten gehören soll. Eine „wilde Schlucht mit vielen malerischen Partien“ nennt Ludwig Salvator, der famose Erzherzog mit dem Blick fürs Detail, das Tal. Luigi der Alles-was-Räder-hat-Vermieter hatte uns die Tour empfohlen und auf einer kleinen Karte skizziert sowie mit vielen Worten erklärt. Allerdings meinte er auch, dass das Gelände unübersichtlich sei, vor allem eine Abstiegs-Stelle sei nicht immer leicht zu finden. „Aber ihr schafft das schon!“
Zuversichtlich schritten wir wacker fürbass. Der Anfang ist eher puppsch, denn der Einstieg zur Wanderung an der auffälligen Schirmpinie kam uns bekannt vor: da geht’s links ab hoch zum Gran Cratere, dem aktiven Vulkan. Wir gehen dieses Mal aber rechts ab, um den Vulkan quasi von hinten zu umarmen.
Ein bisschen Inselgeschichte muss jetzt sein, um dieses ganze Vulkangemenge zu verstehen. Vor etwa 136.000 Jahren begann sich ein Vulkan aus dem Meer zu erheben (Quelle), der bis zu tausend Meter hoch war. Davon geblieben ist letztendlich der große südliche Teil der Insel mit Erhebungen bis zu 500 Metern (Monte Aria; der Monte Saraceno ist 481 Meter hoch – da waren wir später auch drauf) und einer großen Ebene – Piano heißt die. Vor rund 13.000 Jahren kam nordöstlich ein zweiter Vulkan hinzu, der wie der erste später in sich zusammenstürzte. Den Kraterrand kann man heute noch am Monte Lentia (187 m) erkennen. Der heutige Liebling der Touristen ist der Gran Cratere, 391 Meter hoch und auf dem Grund dieser jüngeren Caldera entstanden. Richtig wäre es übrigens, den großen Krater Fossa II zu nennen, er ist der der jüngere von zwei sich überschneidenden Kegeln. Fossa I ist seit dem 6. Jahrhundert nicht mehr aktiv, Fossa II zählt noch zu den aktiven Vulkanen. 1888 bis 1890 gab es eine Serie von heftigen Ausbrüchen – seitdem ist scheinbar Ruhe, nur die Fumarolen dampfen vor sich hin.
Wir sind also auf der jüngeren Caldera und umschleichen Fossa II. Am Morgen waberten noch Wolken rund um die Berge, dieses Spiel mit dem Wechsel zwischen blauem Himmel und tief hängenden Wolken blieb uns den ganzen Tag über erhalten. Aber egal – wir hatten ja ein Ziel! Und der Weg dahin: voller Eindrücke. Linker Hand immer die Fossa: roter Stein, schwarze Asche, hin und wieder erkennt man stecknadelkleine sich bewegende Punkte. Das sind Menschen, die gerade hoch gehen zum Krater, immer schön in der Sonne. Etwas weiter nur sieht man, wie sich die Natur den Berg zurück erobert: Ginster! Ginster! Ginster! Ein gelber Teppich, der sich fotografisch einwandfrei mit dem Blau des Himmels und dem Rot des Felsens arrangiert. Das war vor hundert Jahren schon mal so, bevor – wie Ludwig Salvator zu berichten weiß – „bei der letzten Eruption von 1888-90 der Vulcan seine alte zerstörende Herrschaft über Alles erlangte.“
Rechter Hand erkennt man den Schüsselrand des Kraters. Im nahen Gestrüpp beißt sich eine Ziegenherde durch – weniger romantisch geht auch, denn Baufahrzeuge haben hier ihr Materiallager. Wir haben zwei Beschreibungen: Eine schriftliche von Peter Amann, dem ausgewiesenen Sizilien-Kenner. Sein Insel- und Wanderführer ist zwar 2010 schon in 5. Auflage erschienen, aber keineswegs fehlerfrei, manchmal vom Verlag auch miserabel lektoriert. Aber da es nichts Neueres mit Wanderungen gibt, hatten wir ihn mit: Tour 29 hätte die Grundlage unserer Wanderung sein können. Sie war es aber genau so wenig wie die mündlichen Hinweise von Luigi, unsere zweite Quelle.
Dem Iwanowski waren wir böse, dem Luigi nicht, und das kam so. Amann schreibt, dass sich „linker Hand der Monte Saraceno erhebt“, was er leider nicht tut: er ist rechts vom Wanderer (weil ja links immer die Fossa ist). Dann merkt er an, dass „wir an einer der Messstationen vorbei kommen“ – was richtig ist. Aber es waren etwa fünf, die Anmerkung also nicht wirklich hilfreich. Nun sollen wir „an einer Gabelung den mittleren breiten Weg“ nehmen – nee, nee, nee: soviel Quatsch in vier Zeilen ist schon hart. Bei einer Gabelung dachte ich ja immer, dass man die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten hat (die Italiener sprechen daher ja auch von biforcazione). Derlei Abzweige sahen wir auch, ein flotter Dreier mit der Wahl des breiten Mittleren blieb uns verborgen. So geht das weiter. Nur dass wir „links ein lauschiges Plätzchen“ unter Steineichen nicht erreichten, werfen wir Amann nicht vor: Der Weg dahin war bei unserem Besuch offensichtlich zugewachsen, das muss ja 2009 beim Schreiben nicht so gewesen sein (in OpenStreetMap ist er auch noch verzeichnet).
Fast möchte ich schreiben: natürlich fanden wir auch den Abstieg ins Tal nicht. Aber das ist eh der kritische Punkt, wie Luigi uns schon vorab gesagt hatte, und auch seine blumige Beschreibung führte uns nicht zum Ziel. Wer sich den GPS-Track ansieht, merkt: Wir sind wie verrückt hin- und hergelaufen, hatten auch einen Verdacht, haben uns da aber nicht getraut: Das sah uns zu wild aus. Also stapften wir einfach hoch Richtung Erstvulkankraterebene (da den Einheimischen das Wort zu lang ist, nennen sie die Piano).
Das war zwar nicht der Plan, geriet dann aber doch zu grandiosen Ausblicken und Erlebnissen. Unterwegs gab es Begegnungen mit Ziegen und Schlangen – und die Frage, ob man eine Ziege beim Kötteln ungefragt fotografieren darf, beantwortete ich lässig mit si. Die Ziege und ihr Begleiter guckten allerdings so, als ob sie uns „doofe Touris!“ zumeckern wollten. Im Gegensatz zu Bullen und Kuhmüttern verhalten sich Ziegen allerdings eher freundlich und hauen ab, wenn man kommt – also gab’s keine Probleme. Und die Schlangen von Vulcano, die trotz ihrer schwarzen Färbung Gelbgrüne Zornnattern heißen, sind auch eher harmlos und machen sich meist schnell vom Acker, wenn sie einen bemerken.
Wir landeten auf einer der wenigen Autostraßen der Inseln – und fanden schnell, was wir nicht gesucht hatten, aber schon aus einer Erzählung kannten: Luigi Segatta und Nidra Haupala sind nämlich nicht nur Autovermieter und inoffizielles Touristenbüro, sie haben in den Wintermonaten auch richtig geackert und den alten Königsweg freigelegt. Mit Freunden haben sie das Unterholz weggehackt, die alte Wegführung tatsächlich wiedergefunden – und ausgeschildert, so dass unsereins den Weg auch ohne Vorwarnung findet. Der Pfad schneidet, kann man sich ja denken, die autofreundlichen Kehren und ist daher zwar steiler, aber kürzer. Schöner sowieso! Wir gingen ihn ein Stück bergan und dann runter bis ins Tal, zu unserem Ausgangspunkt.
Ein Schild bestätigt, was wir wussten: Wir sind im Bezirk von Piano. Jemand hatte Bank und Tisch dahin gestellt, was wir selbstredend fürs alljährliche Urlaubs-Selfie nutzten. Im Hintergrund sollte man Fossa II sehen, aber wir haben uns zu breit gemacht – kann ja mal passieren. Obendrein gab’s reichlich schöne Blicke zurück auf das Wegenetz, wobei wir erleichtert feststellten, auch aus der Distanz nicht schlauer zu werden als wir es im Detail waren. Nächstes Mal gibt’s dann halt die geführte Wanderung, die uns Luigi eh zu Gesprächsbeginn empfohlen hatte.
Von unten hatten wir bereits so einen wunderschönen Felsen mit Loch gesehen – den wollten wir finden. Mit Gefühl und Augenschlag gelang uns das dann auch – man darf sich nicht durch Zäune abhalten lassen, wenn man erkennt, dass davor und dahinter ein Trampelpfad ist. Zuerst standen wir auf einem Felsen – über dem Loch, was wir da nur vermuteten, aber noch nicht wussten. Aber mit ein wenig Rumsuchen und Runterkrabbeln eine Ebene tiefer war es dann plötzlich vor uns: das Fenster von Vulcano. Das heißt nicht wirklich so, aber da es nirgendwo einen Namen hat, muss man dem Loch ja einen geben – und uns gefiel, was unser unermüdlicher Informant Luigi uns zu dem Thema gesagt hatte.
Vom Fenster von Vulcano runter gingen wir also den alten Königsweg. Man kann die ehrenamtliche Plackerei gar nicht laut genug preisen und beklatschen, denn was die Freiwilligen da im Herbst vergangenen Jahres mit ihrer Entwucherungs-Aktion geschaffen haben, ist ein wunderbarer Wanderpfad. Wenn es nicht so platt wäre, könnte man schreiben: ein königlicher…
Runter zu, so wie wir ihn gingen, mit permanent grandiosen Ausblicken auf Alles: die ginsterbestandene Fossa voraus, rechts davon erahnt man das von uns nicht geschaffte Valle Roja, links schiebt sich alsbald Salina ins Bild mit den Zwillingsbergen. Wer einen Blick zurück riskiert, erblickt das Grün der Ebene von Piano, wer scharf links den Berg hochsieht, kann kriechende Wolken und kletternde Ziegen auf dem Grad des Monte Saraceno beobachten (für beide Dinge gilt: nur auf Nachfrage und bei Verfügbarkeit).
Wir waren heute auf ähnlichem Weg unterwegs. Komplett zugewachsen ist die Abkürzung zwischen der Strassenkehre, sowie der aus dem Tal am Für de des Kraters eingezeichnete grau gestrichelte Weg. Hingegen ist der Aufstieg, der genau in der Spitzkehre ankommt kein Problem gewesen. Den Abstieg ind en Canyon haben wir nicht gesucht.
Es war ein toller Ausflug, wir sind noch weiter bis zum Capo Grillo gelaufen.