Die Straße zwischen Pianoconte und Quattropani ist unspektakulär. Für die etwa drei Kilometer braucht der Bus knapp 20 Minuten – wegen Haltestellen, Gegenverkehr und überhaupt. Für den Rückweg schlagen wir einen großen Bogen und werden dafür mit jeder Menge Augenweide verwöhnt – unter anderem Cave di Caolino, Terme di San Calogero und Meer. 8,8 Kilometer sind’s dann, mit der (empfehlenswerten) Verlängerung bis zum Belvedere Quattrocchi 10,7 km. Wie lange das dauert, ist abhängig von der Zahl der Fotos und Pausen. Wir langen da gerne bei beiden ordentlich zu, was zu peinlichen Durchschnittswerten und viel Vergnügen führt. Wir sind den Weg einmal von Pianoconte nach Quattropani (2007) und zweimal in Gegenrichtung gelaufen (2011, 2017) – weil das den manchmal unangenehmen Anstieg zu den Cave di Caolino in praller Sonne vermeiden hilft.
Warum überhaupt die gleiche Tour drei Mal? Weil es immer wieder Neues zu entdecken gibt. Und weil man sich das Wetter beispielsweise nicht aussuchen kann. 2007 war es uns notorischen Mittagswanderern (erstes Bild: 10:28 Uhr) eindeutig zu heiß. Es gibt unterwegs eigentlich nur eine Stelle mit Schatten (und dass die kommt, wussten wir 2007 beim ersten Mal nicht mal!). Bei uns heißt der Platz „die drei Bäume“, obwohl es knapp ein Dutzend sind – aber in drei Grüppchen stehend. Die Rast kurz vor eins (Sommerzeit, also für die Sonne kurz vor zwölf!) bescherte uns kurze Schatten, aber besser als nüschte. 2011 dann die gleiche Strecke andersrum. Es ist ja immer wieder faszinierend, dass man da ein völlig neues Erleben hat, mit anderen Aussichten (trotz stetem „nach-hinten-gucken“) und anderen Wahrnehmungen. „Die drei Bäume“ nahmen wir als gelassene Erinnerung wahr, aber nicht als Pausenort. 2017 brachte zuerst vor allem die Erkenntnis, dass man bei Scirocco nicht wirklich viel sieht. Wir ahnten: da hinten muss Salina sein! Wir wussten: die Steine der Kaolingrube leuchten im Licht der Sonne und vor blauem Himmel gewaltig schön und kräftig. Wir sahen: nichts.
Quatsch, natürlich sahen wir was. Wabernde Nebel, der die Berge herauf kriecht und sich in den Tälern zwischen den Hügeln verfängt. Und die warmen Farben der Kaolingrube im augenfreundlichen Mattton. Da hat man doch einmal Zeit, darüber nachzudenken, warum die Porzellanerde Kaolin, die auch weiße Tonerde heißt, hier so schön bunt ist. Nur weil keiner den Farbfilm vergessen hat? Nicht ganz: „Der Hauptbestandteil des schneeweissen Kaolins ist der Kaolinit, ein Verwitterungsprodukt von Feldspat, einem wichtigen Bestandteil des Granits. Hinzu kommen verschiedene andere Tonmineralien. Fumarolen haben hier im Laufe der Zeit durch ihre Verwitterungstätigkeit den Kaolin gebildet. Gelbfärbungen stammen von Solfataren, Rotfärbungen durch Eisen. Die Gesteine im Gebiet der Kaolingrube präsentieren dementsprechend ein eindrückliches Farbenspiel. Noch heute sind einzelne schwache Fumarolen zu erkennen.“ (Quelle)
Ende vergangenen Jahres hat Massimo Lentsch das Gelände gekauft. Genau: ihm gehört, gleich nebenan und sozusagen als Eingang zum Kaolin-Steinbruch, die Tenuta di Castellaro. Das rund 40.000 Quadratmeter große Gelände soll weiterhin für die Öffentlichkeit frei zugänglich sein, versicherte der Käufer – aber wenn wir das bei unseren Gesprächen während des Besuchs im Weingut richtig verstanden haben, soll es neben Restaurierungsarbeiten zur Sicherung des Geländes auch Änderungen geben, die einer touristischen Aufwertung und Nutzung dienen. Für den Bau des Kaolin-Parks wurde Anfang des Jahres 2017 der Geologe und Wissenschaftsjournalist Mario Tozzi gewonnen – so gesehen war die dritte Wanderung durch den Steinbruch sicher nicht die letzte, denn es ist schon spannend, was nach hunderten Jahren Abbau des Kaolins aus einer der schönsten Gegenden Liparis mit herrlichem Blick auf die Küstenlinie und die Inseln Salina, Filicudi und Alicudi wird – richtiges Wetter einmal vorausgesetzt…
Nach dem Kaolin-Steinbruch geht’s bergab mit wechselnden Blickrichtungen – will heißen: der Weg mäandert durchs Gelände, und man sieht abwechselnd das Meer (hin und wieder mit einem Schiff garniert) und dann wieder die Berge. Und zwischendrein die Landschaft mit (im Mai) reichlich blühenden Ginster. Diese gelben Tupfer auf dem grünen Hang machen sich einfach nur gut! Auch und gerade im sich langsam etwas lichtenden Dunst des Scirocco, denn hin und wieder kommt die Sonne durch und lässt den Ginster umso mehr leuchten. Draußen auf dem Meer hat sich das neue Wetter noch nicht rumgesprochen. Himmel und Wasser schimmern zwar schon bläulich, aber die wahre Postkartenpracht ist das nicht. Zum Ausgleich sehen wir gleich zwei Schiffe: die Fähre der Siremar auf dem Weg nach Rinella (Salina), ein Aliscafo in Gegenrichtung.
Unsere Baumgruppe fügt der Landschaft die dunkelsten Grünflecken hinzu. Auf den Schatten verzichten wir – bergab strengt’s eben nicht so an, wobei schon klar ist: von nun an geht’s bergauf. Erst langsam und vergnüglich, später dann heftiger. Im gemütlichen Teil lohnt der Blick zurück, weil immer mal wieder Salina auftaucht und das mit der Küste dieses Teils von Lipari ein perfect match ergibt. Ludwig Salvator, der landeskundlich engagierte Erzherzog Österreichs, hat die Inseln genauestens beschrieben und auch mit Bildern versehen. Insgesamt acht Bände sind zwischen 1893 und 1896 in Prag erschienen – zu jeder Insel einer und ein zusammenfassender, hauptsächlich statistischer Band. Die Bilder hat Ludwig Salvator selbst „mit stenografischem Bleistift oder Feder … nach der Natur gezeichnet“, für den Druck wurden sie dann von Prager Holzschneidern geschnitten. Eins der Bilder von 1894 hat es (neben eigenen Fotos aus den Jahren 2007, 2011 und 2017) in die Collage geschafft.
Der Weg entlang der Westküste ist von der bequemen Art: kaum Steigung, gut zu laufen – ein blütenreicher Spaziergang, der auch immer wieder nette Ausblicke bietet. Man sieht ja immer viel zu wenig aufs Meer – hier geht das im Vorübergehen. Und wenn es gerade nicht blüht, bleiben die Kakteen, die sich manchmal zu bizarren bzw. allzu menschlich oder tierisch wirkenden Formen hinreißen lassen. Mit anderen Worten: man kommt kaum voran, weil die Kamera stets flüstert, man solle sie doch bitte nicht so hängen lassen und gefälligst Bilder machen. Na gut…
Eine alte Brücke überquert das Vallone dei Lacci – das Tal der Schnürsenkel – ein schöner Name für ein Tal, das man kaum bemerkt und gar nicht so recht weiß, was es da aufwändig zu überbrücken gibt. Direkt danach scheint es Fördergelder für schöne Wege gegeben zu haben: aus dem sehr naturnahen Weg wird ein vorzüglichst gepflasterter, und an der Spitze des Felsens, den man erst einmal 500 Meter Richtung Meer und dann etwas weiter südlich parallel dazu wieder zurück geht, gibt es sogar einen Rastplatz mit Bank. Man kann auch bis nah an den hier rund 30 Meter abfallenden Rand der Insel gehen – eine Holzabsperrung verhindert unschöne Abstürze beim Blick auf den Fels Pietra del Bagno, der offensichtlich ein letztes Aufbäumen des Felsrückens ist, den wir gerade umrunden. In die andere Richtung blickend erkennt man in einem Kilometer Entfernung schon das nächste Ziel: die Terme di San Calogero, die 150 Meter höher liegt. Auf dem Weg dahin bestimmen noch einmal Blumen das Bild – vor allem auf einer Wiese mit einer wilden Mischung bunt blühender Blumen.
Das gelbe Gebäude der Terme stammt (vermutlich, lese ich in der italienischen Wikipedia) aus dem Jahr 1872. Gut 103 Jahre später wurde sie geschlossen und verfiel seitdem – so erlebten wir das Gebäude bei den ersten beiden Wanderungen 2007 und 2011. In diesem Jahr die Überraschung: ein handgeschriebenes Schild verwies auf den Parco Terme und lockte mit dem Zusatz: freier Eintritt. Und das täglich außer sonntags von 10 bis 18 Uhr. Freiwillige einer Kooperative kümmern sich, wenn nicht viel los ist, gibt es sogar eine Führung, ebenfalls kostenlos – aber es gibt ja die Möglichkeit zu spenden (oder, um einen Beitrag zu leisten, sich den musealen Teil im oberen Stockwerk gegen Bezahlung anzusehen). Bei der kleinen Führung erfährt man, dass 1872 als Merk-Zahl viel zu kurz gesprungen ist. Eigentlich ist das Bad von San Calogero nämlich das älteste (oder zumindest eines der ältesten) Spa der Welt. Hinter dem gelben Gebäude befindet sich ein kleiner Tholos, ein Beispiel der mykenischen Architektur (Handelsbeziehungen hat es z.B. im 17. bis 15. Jahrhundert v. Chr. zwischen den Bewohnern des Capo Graziano auf Filicudi und Mykene gegeben). Und siehe da: nach 3.500 Jahren gibt es da immer noch Thermalwasser. Es hat einen fast neutralen pH-Wert, und mit den Inhaltsstoffen Salz-Sulfat-Hydrogencarbonat-Natrium ist angeblich in der Lage, Arthritis und allerlei (oder gar alle erdenklichen?) Hautkrankheiten zu heilen. Wie auch immer: das Wasser, das mit etwas über 50 Grad sprudelt, fühlt sich gut an. Aber, lernen wir: eigentlich darf man es ja gar nicht anfassen, denn es handelt sich schließlich um ein archäologisches Denkmal…
Vieles von dem, was wir bei der offiziellen Führung erfuhren, wussten wir übrigens schon – denn noch bevor wir die Stufen runter zum offiziellen Eingang gingen, hatte uns Angelo abgefangen. Angelo stand schon immer mit seinem Auto vor der Terme, wie ein Blick ins Fotoarchiv offenbart. Er bot allerlei Schnickschnack (darunter Obsidian und Bimsstein) und vor allem sich selbst an: als Wanderführer über die Insel allgemein und als Erklärer der Terme und ihrer Geschichte im Besonderen. In einer eigenwilligen Mischung aus überwiegend italienisch mit einigen englischen und deutschen Brocken dazwischen und mit Hilfe seiner Hände und eines bebilderten Lipari-Buches erklärte er uns den antiken Teil des Objekts – von außerhalb. Wir verstanden vielleicht ein Achtel der Hälfte von allem, fanden Angelo aber irgendwie symphatisch. Und als er dann mit einer abgeschnittenen 2-Liter-Plastikflasche an einem Tau los stapfte, folgten wir gespannt. Geschickt schwenkte er die Plasteflasche am Tau durch die offene Tür ins Haus mit dem Wasser und füllte sie, um uns das Wasser über die Hände zu schütten und all die heilenden Wirkungen dabei zu erklären. Sicher nicht ganz legal, aber wir fanden’s gut (und die Freiwilligen der Kooperative scheinen’s zumindest zu dulden, denn Heimlichkeit war nicht im Spiel). Wir kauften dann aus dem Kofferraum des Renault von Angelo eine Flasche selbst gemachten Malvasia. Kein Vergleich zu den feinen Malvasias von der Tenuta di Castellaro, Hauner & Co – aber sauber und ursprünglich, somit eine ehrliche Empfehlung (auch wenn keine Zeit für die Individualführung mit Angelo ist).
Von den Termen geht es aufwärts nach Pianoconte. Der Aufstieg ist erträglich, weil es immer was zu sehen gibt. Erst ist, wie Nina Hagen es schon für Hiddensee besang, noch Landschaft da. Mit Mohnblüten, Zitronenbäumen, einsam vor sich hin rostenden Toren und derlei Dingen. Aber dann folgen zunehmend Häuser der Siedlung Pianoconte. Hier kann man, wenn die Zeit passt, richtig gut essen – oder, wenn man im zeitlichen Tal zwischen pranzo und cena aufschlägt, in der Cin Cin Bar sich ein Stück Pizza warm machen lassen zum erfrischend kalten Weißwein (wobei der Wirt zwei Flaschen gut gekühlt hatte und uns alternativ anbot. Wir probierten, weil am Ende der Tour nicht so entscheidungsfreudig, erst ein Glas vom einen und dann eins vom anderen – beide waren gut!). Derlei trefflich gestärkt beschlossen wir, nicht den Bus nach Lipari direkt gegenüber der Bar zu besteigen, sondern noch durch das 1082-Seelen-Dorf (Quelle) zu gehen bis zum Aussichtspunkt Quattrocchi – eine gute Entscheidung. Denn wo raunen sich schon zwei wackere Schulknaben ein anerkennendes „è italiano!“ zu, nur weil man ihr weltoffenes „hello!“ mit einem italienischen „ciao!“ erwidert? Das war dann auch schon das aufregendste Ereignis des Bummels – der Rest war Eintauchen in ein Dorf. Die Kirche Santa Croce steht offen, wir lassen die Kühle des Raums und die Ausgestaltung ein wenig auf uns wirken, dann bummeln wir durch die Straße Richtung Friedhof. Gleich außerhalb der Bebauung hat man einen schönen Blick auf die Stadt Lipari (bei uns immer noch durch den wüstenstaubigen Scirocco im Wortsinne getrübt.), im Nahbereich locken Mohnblumen, Ginster, Weinfelder und Katzen. Der Weg mündet oberhalb des Aussichtspunkts Quattrocchi – und wir stellen fest: von hier ist es noch schöner. Zumindest bei klarer Sicht…
[Gewandert: 11. Mai 2007 | 11. Mai 2011 | 13. Mai 2017 (Datum der Karte)]
Hinterlasse jetzt einen Kommentar