Von Kurt Tucholsky (1921)
Der Berliner und insbesondere die Berlinerin ›kommt‹ bekanntlich ›zu nichts‹, und dem mag denn wohl auch zuzuschreiben sein, dass so viele Leute Wohltätigkeit üben möchten und so wenige es tun. Sie ›kommen nicht dazu‹. Und dann – wie fängt man das an? An wen soll man schicken? Und was? Und das Mädchen hat so viel zu tun – und soll nun auch Pakete schnüren, und es dauert so lange, Postanweisungen aufzugeben … Und inzwischen frieren und hungern die andern.
Es ist also nicht immer Phantasielosigkeit daran schuld, dass einer nichts gibt. (Obgleich viele Leute mehr Gutes täten, wenn sie sich nur recht intensiv vorstellten, was das ist: hungern – und was das ist: frieren.) Es mag auch Mangel an Zeit schuld sein.
Ich bitte nun die unter meinen Lesern, die im Laufe des Jahres ein bißchen Unterhaltung, Anregung oder Freude an den kleinen Glossen gehabt haben, die ich hier veröffentlichen durfte, mir einen Weihnachtswunsch zu erfüllen.
Dem Städtischen Asyl für Obdachlose geht es mit seinen Mitteln nicht zum besten. Die Leute brauchen Kleider, Decken, Nahrungsmittel und vor allem Geld. Adresse: Berlin N C 55, Fröbelstraße 15.
In der Prinzregentenstraße 23 zu Wilmersdorf lebt eine blinde Frau, Betty Wassermann, eine ehemalige Tänzerin, die bei einem Versuch des Doppelselbstmords durch einen Schuß ihr Augenlicht eingebüßt hat. Sie ist von einem Tag zum andern auf das angewiesen, was ihr fremde Menschen ins Haus schicken.
Die Gefangenen auf der Festung Niederschönenfeld sind hilf- und wehrlos der bayerischen Verwaltung ausgeliefert. Während sich Jagow ›entfernte, um von der Haft verschont zu bleiben‹, leiden diese armen Menschen wie die Tiere. Sie möchten Tabak haben, Süßigkeiten, unpolitische Bücher; für den, der das grade nicht im Hause hat, wird eine Geldsendung am richtigsten sein. Man kann an Ernst Toller oder Erich Mühsam, Festung Niederschönenfeld bei Rain am Lech in Bayern, adressieren.
Es ist Geschmackssache, wem man so eine Weihnachtsgabe schickt, und was man schickt.
Ich bitte jeden einzelnen, nach Lust und Können an diese Adressen oder – wenn er bessere weiß – an andre was zu Weihnachten zu schicken. Man sollte die Trägheit des Herzens überwinden. Es summiert sich ja doch.
Wer sich mit der Formalität dieser Sendungen nicht abgeben mag, der überweise eine Summe dem Postscheckkonto der ›Weltbühne‹ Berlin 11958. Wir werden das Geld unter diese drei Empfängergruppen verteilen und auf Wunsch öffentlich quittieren. Ich habe einen kleinen Anfang gemacht und der ›Weltbühne‹ eine Summe Geldes zur Verfügung gestellt.
Meine Bitte: folgt nach!
Kurt Tucholsky
Die Weltbühne, 15.12.1921, Nr. 50, S. 610.
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