Den Geist des Ortes spüren lassen

Ein Besuch in der Kartause Ittingen im Schweizer Kanton Thurgau

Kartause Ittingen

Es ist Mai. Das Wetter weiß gerade nicht so recht, welchen Weg es einschlagen soll: fette Wolken mit Hang zum Regen oder blauer Himmel mit Wölkchen und Sonnenschein? Die Wiesen, das ist der Vorteil bei so einer durchwachsenen Wetterlage, sind fett grün, der Himmel nie langweilig auf dem Weg nach Warth im Schweizerischen Thurgau zur Kartause Ittingen.

Eine Kartause, hatte ich ja so selbstbewusst wie falsch gedacht, sei immer etwas Kleines, Bescheidenes. Angesichts der Kartause Ittingen musste ich dann doch einmal bei der Wikipedia nachlesen und mich eines Besseren belehren lassen: „Eine Kartause (früher auch Karthause) ist ein Kloster des Kartäuserordens. Die Bezeichnung Kartause leitet sich von dem lateinischen Cartusia für den Gründungsort der ersten Kartause ab, das im Jahr 1084 entstandene Stammkloster La Grande Chartreuse.“

Eine singende Tanne

Ittingen ist seit 1848 kein Kloster mehr, aber die Kartäuser wirken nach, wie ich während des Besuchs erfahren durfte. Die ersten Erlebnisse konnte ich freilich noch nicht so richtig einordnen. Der Parkplatz ist groß, sehr groß (das war der Moment, die Wikipedia zu bemühen). Und er ist gratis. Da, wo man als unverwöhnter Parkist den Zahlautomat vermutet, steht eine Spendenbox mit Informationen zu anstehenden Restaurierungsarbeiten. „Mit Ihrem Beitrag in diese Kasse helfen Sie mit, die historischen Dächer der Kartause Ittingen dicht zu halten. Dafür danken wir Ihnen ganz herzlich.“ Klingt besser als das freundliche Angebot mancher Supermarktbetreiber, abschleppen zu lassen, wenn nicht gezahlt (indirekt, im Laden) bzw. die Parkscheibe zu sehen sei.

Drei Schritt weiter – es ist natürlich immer noch Mai, nur so zur Erinnerung – murmelt es aus einer Tanne weihnachtlich. Verunsichert gehe ich weiter – doch ja: „I’m dreaming of a white Christmas!“ ist als Melodie deutlich zu erkennen. Verrückt! Aber eigentlich völlig okay – man wird doch noch träumen dürfen, selbst als Tanne. Beim zweiten Besuch der Tanne, sie träumt immer noch unermüdlich von der weißen Weihnacht, stelle ich dann fest: das ist Kunst. „Singender Tannenbaum. Ein Lied für eine andere Zeit“ erfahren die deutschsprachigen Leser des Schildchens, dass es ein „Summer Tree Dream“ sei, den sich 2008 Christina Hemauer und Roman Keller ausgedacht haben, die Leser des anderen Schildchens. Ob die Audioinstallation an Rottanne jetzt wohl auf „Alle Vögel sind schon da“ umgestellt hat?

LOOPGleich gegenüber der singenden Tanne haben sich (2017) die Künstler Matthias Bildstein und Philippe Glatz die nicht minder surrealistische Endlosschleife LOOP ausgedacht und quasi M. C. Escher materialisiert. Ein Hingucker! Aber nicht der Grund, die Kartause Ittingen zu besuchen. Ich war neugierig geworden, weil das Restaurant ein Null-Kilometer-Menü anbietet.

Wenn ein Restaurant ein Null-Kilometer-Menü anbietet, dann stellt sich zuallererst ja mal die Frage: Haben die sich verschrieben, meinen die vielleicht Kalorien? Aber nein, das wäre ja erstens recht unsinnig und zweitens sicher auch nicht schmackhaft. Nein, in der Kartause Ittingen im schweizerischen Kanton Thurgau meinen sie das ernst, wenn sie ein Null-Kilometer-Menü anbieten. In dem Menü ist dann alles rund um die Kartause gewachsen und auch dort verarbeitet: brutal regional ist ja sooo Berlin – alles vom eigenen Hof, das hat Stil.

Valentin BotIm Rahmen einer Pressereise gab’s die Gelegenheit, vor dem Essen mit Hoteldirektor Valentin Bot einen Spaziergang zu einigen Stationen der Kartause zu machen. Wobei es nur ein kleiner Ausschnitt rund um die Gebäude war, denn insgesamt die insgesamt rund 100 ha Land zu erkunden, wäre dann doch ein wenig viel zur Vorbereitung aufs Essen! 25 ha offenes Ackerland, 29 ha Wiesen und Weiden, 10 ha Weinreben, 2 ha Obst und 2 ha Hopfen, 32 ha Wald und eine Alp im Toggenburg mit Sommerweiden für die Rinder gehören zum Gutsbetrieb.

Geschichte

Kartause Ittingen„Man muss in wenig in die Geschichte gehen, um das alles zu verstehen“, sagt Valentin Bot und unternahm auf eine  unakademische (weil kurze und unterhaltende) Reise in die Vergangenheit. Startpunkt: das Jahr 1150, in dem die zwei Burgherren von Ittingen beschlossen, klösterlich leben zu wollten. Sie überschrieben ihre Besitztümer dem Augustinerorden und traten dem Orden bei. Als der 300 Jahre später verarmte, übernahmen die Kartäuser – und in ihren Händen blieb sie dann für rund 400 Jahre, bis das Kloster 1848 aufgehoben wurde.

Kartause Ittingen„Glaube, Philosophie, die Ausrichtung der Kartäuser-Mönche prägen Ittingen bis heute“, lernen wir vom Hoteldirektor. 1848 wurden die Klöster im Kanton Thurgau aufgehoben, sie sollten verstaatlicht werden. Was dann erst einmal geschah, ist ein schönes Beispiel dafür, dass früher® nicht wirklich alles besser war (oder, wenn man so will, die Menschheit nicht nur heute so ist wie wir sie bejammern): „Nachdem der Versuch des Kantons Thurgau, die Kartause in eigener Regie zu betreiben, in einem riesigen Betrugsskandal geendet hatte, wurden die Klostergüter 1856 an Private verkauft“, lesen wir in einem Heft über die Kartause Ittingen. Die Privaten war in diesem Fall der Bankierssohn Victor Fehr, der ein studierter Agronom war und mit der Mischung aus landwirtschaftlicher Bewirtschaftung des Hofs und herrschaftlichem Wohnsitz den Grundstein Nummer zwei für den heutigen Betrieb legte. Die heutige Phase begann 1977, als die Familie Fehr das Kloster an die eigens zu diesem Zweck gegründete Stiftung verkaufte. Und seitdem gibt es dort: Hotel, Restaurant, Seminargebäude, Museen, Landwirtschaft und Weiterverarbeitungsmöglichkeiten in Käserei, Metzgerei und Gärtnerei. Und im Weingut, natürlich – dazu später mehr.

Der Geist des klösterlichen Lebens

Hotelzimmer„Das Betriebskonzept der Kartause Ittingen basiert auf den klösterliche Werten Fürsorge, Spiritualität, Gastfreundschaft, Kultur, Bildung und Selbstversorgung“, erklärt Valentin Bot. Es ist freilich nicht mehr so wie bei den Kartäusern, zu deren prägenden Lebensgewohnheiten eremitisches Leben und Schweigsamkeit gehören (es gibt einen beeindruckenden Film „Die große Stille“ des deutschen Regisseurs Philip Gröning aus dem Jahr 2005), in dem naturgemäß nicht viel geredet wird. Mit ein wenig Suche findet man ihn im Netz und kann ihn sich ansehen. Zur Fürsorge gehört, dass es in der Kartause Ittingen 60 geschützte Arbeitsplätze gibt – die Hälfte der Schützlinge wohnt auch im Kloster. Die Spiritualität findet sich vor allem in den Angeboten des tecum wieder, dem Zentrum für Spiritualität, Bildung und Gemeindebau der Evangelischen Landeskirche Thurgau. In zwei Museen im historischen Teil des Klosters findet die Kultur (die einen aber prinzipiell schon mit der ganzen Anlage in Bann nimmt) ihren Niederschlag. Gastfreundschaft erleben wir in einem der 68 Zimmer des Hotels mit seiner Gastronomie – und zur Selbstversorgung erfahren wir viel auf unserem Rundgang.

Im Hofladen

Käse im Hofladen HofladenEigentlich müsste man allerdings gar nicht rundgehen, denn im Hofladen kommt eh alles zusammen, was die Karetause hergibt. Die Früchte werden in der Küche verarbeitet – frisch oder zu Chutneys und Pestos. Holzkohle produzieren sie selber, es gibt einen Meiler im eigenen Wald – im Winter wird dort Schreinerei, Töpferei Primär ist es Milchlandwirtschaft rund um Ittingen – 60 Milchkühe gibt es, die Käserei produziert Käse, Joghurt, Butterrahm. Abfälle gehen zu den Schweinen, das Fleisch zum Metzger, von dort in den Klosterladen oder ins Restaurant. Ein Kreislauf, das sieht man hier ganz gut, braucht eine gewisse Vielfalt. Zwölf Käsesorten produziert die Käserei, darunter einen Rohmilchbrie, was sich ja nicht viele Käsereien (mehr) trauen. Schaut man sich weiter um im Hofladen, sieht man Regenbogenforellen – und klar, auch die Fische kommen aus der eigenen Zucht. In der Getränkeabteilung findet man Spirituosen („Wir brennen alles, was man brennen kann!“), 200 Teekräutersorten und Wein (10 ha Rebfläche). Hopfen wächst auch in Ittingen, aber das Bier machen sie nicht selbst…

Erhalten und bewahren

Kartause IttingenEin Drittel (etwa 10.000 qm) der Dachflächen müssen in den kommenden drei bis fünf Jahren saniert werden. 3 Millionen Schweizer Franken wird das kosten. Zahlen wie diese könnten wohlfeile Worte (Stiftungszweck ist: erhalten und bewahren) in ein rein betriebswirtschaftliches Licht. Aber wir sind ja in einem ehemaligen Kloster, da weht ein anderer Wind. Valentin Bot sagt: „Wir wollen den Geist des Ortes spüren lassen, den Ort beleben. Das Beleben muss das Bewahren finanzieren.“ Als Hoteldirektor und Gastronom ist er natürlich eher fürs Beleben zuständig, da hat er schon Spass an drei Hochzeiten am Wochenende. Aber die Ruhe, die Stille soll erhalten bleiben. „Ittingen soll nie ein Disneyland werden!“, meint der Hoteldirektor.

Das Prinzip scheint nicht neu, denn auch die Kartäuser waren schon clevere Geschäftsleute, der Weinhandel machte sie reich. Eine gute Voraussetzung, die Dinge gelassen zu sehen. Auf jeden Fall half das Geld, die Anlage zu bewahren (und irgendwie belebt Wein ja auch).

I never promised you a rose garden

RosengartenÜber tausend Rosen, mehr als 250 Sorten: die größte historische Rosensammlung der Schweiz ist nicht nur den Hochzeitern vorbehalten – obwohl an solchen Tagen Rosen ja immer gut was hermachen. Doch es müssen ja nicht immer Rosen sein: auch im Kräutergarten blüht es, und wer sich ein wenig auskennt, kann sich in der Phantasie durchriechen und zu den Kräutern die passenden Gerichte überlegen. Wer’s leichter haben will, geht am Abend einfach in die Mühle (so heißt das Restaurant) und verlässt sich auf die Phantasie und Kreativität der Köche.

MönchszelleMan kann heute auf Wunsch leben wie die Mönche. Auch in ihren Zellen. Jeder Mönch hatte (s)eine Zelle – und jeder Kartäuser-Bruder ging einem Handwerk nach. Man hat seinerzeit viel getan, um den Mönchen das schwere Leben einfach zu machen. Zwei Meter hohe Mauern vor den Gärten der Zellen verhinderten die Kommunikation mit den anderen Mönchen – und sogar das großartige Wissen um die Wirkung der Pflanzen und Kräuter wurde passend gemacht. Der Mönchspfeffer beispielsweise hat so kleine Körner, fast wie Pfeffer. Aber er macht nicht scharf, im Gegenteil: die Kartäuser aßen Mönchspfeffer wegen der Hemmung aufs Libido. Was dann allerdings zu denken gibt: im Gin sei („ganz wenig allerdings nur!“) auch was drin vom Mönchspfeffer, verrät der Hoteldirektor…

Eine Zelle gibt es übrigens für Kunstschaffende kostenlos (für einen Monat, man muss sich bewerben), eine andere kann man mieten, „Ferien in der Mönchsklause“ – und sie ist nicht mehr ganz so arg karg, und Mönchskraut muss man dort auch nicht essen.

Selbstversorgung aus dem Garten

QuelleDie Kräuter kommen aus dem eigenen Garten, aber fürs Gemüse reicht der Garten nicht. „Wir haben immer Fleisch, wir haben immer Mehl – aber nicht immer genug Gemüse. Tomaten, Gurken, Zucchini gehen schon ein ins Menü, aber Spargel beispielsweise muss dazu gekauft werden!“ sagt Valentin Bot. Das Null-Kilometer-Menü in Perfektion gibt’s manchmal aber schon, denn kommt nicht nur alles auf dem Teller aus der Kartause, sondern auch der Teller selbst aus der Töpferei. Und wenn Obst oder Gemüse dazu gekauft werden muss, dann hat es meist auch keine lange Wege hinter sich – so entstanden das 5- und das 10-Kilometer-Menü. Vor etwa drei Jahren begann die Idee des Null-Kilometer-Menüs Gestalt anzunehmen, für die Köche eine Herausforderung. „Aber durch die Limitierung ist eine tolle Kreativität entstanden!“, sagt Bot.

Eine eigene Quelle gibt es auch, in der Brunnenkammer kann man’s rauschen hören. Das Wasser der Quelle am Fuß des Rebbergs bietet die ideale Grundlage für die Regenbogenforellenzucht. Prima Wasser und naturnahe Lehmbecken sorgen für eine tiergerechte Haltung der Forellen. Das Quellwasser kommt obendrein den Kühen und Schweinen im Stall zugute. „Die Quelle sprudelte vor drei Jahren noch 300 l/Minute, jetzt durch die Trockenheit nur noch die Hälfte“, berichtet Valentin Bot.

Wein

KirchwingertWein spielte im Leben der Mönche in der Kartause eine große Rolle. Kein Wort darüber, wie viel sie selbst getrunken haben – aber sie lebten nachweislich nicht schlecht von dem Wein, den sie verkauften: „Als die Kartause Ittingen 1837 unter Staatsaufsicht gestellt wurde, wies das Inventar 1,3 Millionen Liter Wein aus“, steht auf einem Schild entlang des Wanderwegs rund um den Rebberg Kirchwingert. 30 bis 40 Minuten dauert der kleine Spaziergang,  bei dem man auf zehn solcher Tafeln Wissenwertes zur Geschichte des Weins, zur Pflege der Reben übers Jahr, zum Terroir und zum Weinsortiment der Kartause Ittingen erfährt. Wo der Weg endet? Am besten bei einer Weinprobe oder im Restaurant, wo man den Wein zum Essen probieren kann. (Wen wundert’s: das gibt einen eigenen Beitrag!) Das Thema Wein und Wohlstand war übrigens vom Juni 2016 bis Dezember 2018 als Ausstellung im Ittinger Museum thematisiert. Seit dem 1. Mai 2019 ist nun ein Teil dieser Ausstellung dauerhaft an zwei Orten des Museums in der Kartause Ittingen zu sehen. Wer sich traut, schweizerdeutscxh zu hören und versuchsweise zu verstehen, findet drei spannende Hörspiele zur Ausstellung hier auf der Webseite des Museums.

Die Klosterkirche

Klosterkirche IttingenEins der beiden Museen im Bereich der Kartause ist das Ittinger Museum. Auf der Webseite findet man den sehr schönen Satz: „Das wichtigste „Ausstellungsgut“ des Ittinger Museums ist das Gebäude selber.“ Wer wenig Zeit hat, sollte auf keinen Fall die Ittinger Klosterkirche besuchen. Deren Grundstruktur geht teilweise auf die Zeit vor der Übernahme des Klosters durch die Kartäuser im Jahr 1461 zurück, mittelalterliche Elemente verbergen sich in den Seitenwänden und in der Lettnerwand unter den späteren Überformungen. Was sich dem heutigen Besucher aber hauptsächlich präsentiert, ist die üppige Rokokodekoration, die zwischen 1763 und 1767 entstand und die die um 1700 entstandenen Erneuerungen ergänzt. Der Wohlstand der Kartäuser ermöglichte einen vergrößerten Grundriss, mehr Licht durch größere Fenster und das reich dekorierte Chorgestühl aus Nussbaumholz, ein Werk des Holzbildhauers Chrisostomus Fröhli und seiner Werkstatt. Zu den Veränderungen der 1760er Jahre gehören u.a. die Stuckaturen und Stuckmarmoraltäre aus der Werkstatt von Johann Georg Gigl sowie die Decken- und Wandbilder sowie die Altarbilder des Konstanzer Hofmalers Franz Ludwig Hermann. Das dominante Thema der Wand- und Deckenbilder ist der heilige Bruno von Köln, der Ordensgründer der Kartäuser.

Stiftung Kartause Ittingen
CH 8532 Warth

Tel. +41 52 748 44 11
www.kartause.ch

Hinweis:
Die Recherchen zu den Berichten wurden im Rahmen einer Pressereise des Thurgau Tourismus unterstützt.

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