Ernüchternd muss ich feststellen, dass trotz aller im Laufe der Jahre angesammelten Bildung das Bildungsbürgertum an mir vorüber gegangen zu sein scheint. Ich kenne ja nicht mal das längste Wort der Literatur, obwohl es sich bei λοπαδοτεμαχοσελαχογαλεοκρανιολειψανοδριμυποτριμματοσιλφιοκαραβομελιτοκατακεχυμενοκιχλεπικοσσυφοφαττοπεριστεραλεκτρυονοπτοκεφαλλιοκιγκλοπελειολαγῳοσιραιοβαφητραγανοπτερύγων doch um die durchaus zum bei den STIPvisiten gepflegten Sujet passende Speise Austernschneckenlachsmuränen-Essighonigrahmgekröse-Butterdrosselnhasenbraten-Hahnenkammfasanenkälber-Hirnfeldtaubensiruphering-Lerchentrüffeln-gefüllte Schüssel handelt! Und das Stück, in dem diese Köstlichkeit aus dem Jahre 392 vor Chr. vorkommt, habe ich auch noch nie gelesen. Insofern: Schande über mich!
Auftritt die Serkowitzer Volksoper! Die hat sich nämlich in diesem Jahr des offensichtlich gar nicht so neuen Themas der Rollenverteilung von Frau und Mann angenommen und ist dabei auf Aristophanes gestoßen, der es als Komödienschreiber vor fast zweieinhalbtausend Jahren auch schon nicht leicht hatte – die üblichen Vorwürfe: zu kritisch, zu spöttisch. Und in Gedankenspielen vielleicht auch – zeitunabhängig, wie man 2.432 Jahre nach der Premiere von seiner Komödie Lysistrata im gut bedachten Freiluftareal der Dresdner Saloppe besorgt feststellen muss, zu kess in den Gedankenspielen.
In Vulva veritas heißt die Serkowitzer zusammenführende Umsetzung der beiden altgriechischen Komödien „Die Weibervolksversammlung“ und „Lysistrata“, was für eine Volksoper ganz schön viel Latein ist. Dafür kommt in Wahrheit auch gar nicht so viel vulva vor, da war wohl nur der Spaß an der Alliteration bei der Titelfindung im Spiel. Es geht bei diesem Umsturz nach Aristophanes (so der Untertitel der Oper) um Gendergerechtigkeit, wenn auch nur in der knappen X-Y-Chromosom-Sichtweise. Und das als Oper, also mit viel Gesang. Das hört sich, mit all den prima ausgebildeten Stimmen der Agierenden und der spannenden Musikmischung von Paul Lincke, Giaccomo Puccini mit Einschüben von Kurt Weill sowie James Brown (It’s a Man’s World) und Aretha Franklin (Respect), gut an. Aber manchmal, sagt der nichtgebildete Operngänger, ist’s bei unbekanntem Stoff auch schwierig. Verstehste, nicht?
Und so dümpelte der erste Teil vor sich hin. Draußen auf dem Saloppe-Gelände wurde eindeutig mehr gelacht als im Rund vor der Zirkuswagenguckbühne. Eine gewisse Ratlosigkeit herrschte im Publikum, die sich am besten mit dem Verhalten nach dem Abgang des Ensembles beschreiben lässt. War’s das?, schienen sich alle zu fragen. Das spürte auch Wolf-Dieter Gööck, alter Hase im Volksoper-Geschäft und für Textbuch und Inszenierung zuständig. „Es ist doch jetzt nur die Pause!“ rief er und klärte damit die Lage des Theaters knapp 90 Minuten nach Spielbeginn.
Vielleicht hätte man ja mit der Pause anfangen sollen. Oder mit den Getränken während der kurzen Auszeit. Jedenfalls war (im kürzeren) zweiten Teil alles anders. Das Publikum lachte mehr als die da draußen vor dem Zelt, es gab (verdienten) Szenenapplaus, irgendwie erschloss sich die Idee allmählich auch dem Letzten – und was die Priesterin zur Hälfte der ersten Spielphase nur behauptete – „es fängt langsam an, Spaß zu machen“ –, trat nun wirklich ein. Nur wer durchhält, den belohnt das Theater. Unterm Strich also verdienter Beifall am Ende der Premierenaufführung!
[Bildungsbürgerliche Nachhilfe aus der Wikipedia: 1 – 2 – 3]
Vorstellungstermine
- Sonntag, 20. Juni 2021 (Doppelvorstellung)
- Montag, 21. Juni 2021
- Sonntag, 27. Juni 2021 (Doppelvorstellung)
- Montag, 28. Juni 2021
- Mittwoch, 30. Juni 2021
- Montag, 05. Juli 2021
- Mittwoch, 07. Juli 2021
- Montag, 12. Juli 2021
- Mittwoch, 14. Juli 2021 (Dernière)
Beginn jeweils 19.30 Uhr (Einlass ab 18.30 Uhr)
am 20. / 27. Juni 2021 zusätzlich 15.00 Uhr (Einlass ab 14.00 Uhr)
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