In einer Zeit, da Ernährungstrends wie intermittierendes Fasten oder pflanzliche Alternativen die Debatten dominieren, wagt Sira Huwiler-Flamm mit ihrem Sachbuch „Hinter dem Tellerrand: Warum uns erst Essen zu Menschen macht“ einen weiten Blick über den bloßen Nährwert hinaus. Die Journalistin konzentriert sich in ihrer Arbeit auf Gesellschaft, Gesundheit und Natur, hier präsentiert sie ihr erstes Buch, das im Juni 2025 beim Westend Verlag erschienen ist. Mit 20 Thesen beleuchtet sie die gesellschaftliche, kulturelle und evolutionäre Dimension des Essens – ein Ansatz, der ambitioniert wirkt, doch in seiner Leichtigkeit und Fundiertheit überzeugt. Außerdem interviewte Huwiler-Flamm über 20 Spitzenköche wie Johann Lafer, Alexander Herrmann und Maria Groß, ergänzt durch Gespräche mit Wissenschaftlern, Historikern und Alltagshelden wie einer Hospiz-Köchin oder der Wanderin Christine Thürmer. Das Ergebnis ist ein Buch, das unterhaltsam bleibt, ohne die Tiefe zu opfern.
Der Kern des Werks liegt in der These, dass Essen uns erst zum Homo sapiens formte. Vor 1,9 Millionen Jahren, so argumentiert die Autorin, ermöglichte die Beherrschung des Feuers das Kochen, was eine hochkalorische, vielfältige Ernährung schuf. Im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten, den Bonobos, die Stunden mit Kauen verbringen, gewann der Mensch Zeit für Gehirnentwicklung und soziale Strukturen. Essen wird hier nicht als bloße Überlebensstrategie dargestellt, sondern als kultureller Motor: Es weckt Emotionen, signalisiert Zugehörigkeit oder Abgrenzung, verbindet Kulturen oder trennt sie. Beispiele reichen von der Globalisierung – Kolumbus brachte die Kartoffel, die unsere Speisen revolutionierte – bis hin zu Alltagsbeobachtungen. Warum finden viele über 50jährige rohen Fisch unappetitlich? Warum verlernten Großmütter das Kochen mit wilden Zutaten durch Dosenravioli? Und wieso war Deutschlands erster Fernsehkoch eigentlich ein Schauspieler? Solche Anekdoten machen das Buch nahbar, ohne in Trivialität abzugleiten.
Huwiler-Flamm betont den Respekt vor dem Essen, ohne moralisch zu werden. In einem Interview erklärt sie, nichts zu verbieten, doch bei tierischen Produkten auf Herkunft zu achten – prekäre Haltungsbedingungen seien nach wie vor ein Skandal. Tiere verdienten Achtung, auch als Nutztiere. Persönlich läuft ihr das Wasser im Mund zusammen bei simplen Freuden: einem duftenden Markt, frisch gepflückten Brombeeren oder den Spaghetti ihrer Mutter mit Parmesan. Geschmack, so sie, hängt von Prägung, Herkunft und Neugier ab, ergänzt um ökologische und gesundheitliche Aspekte. Das Bonmot „Der Mensch ist, was er isst“ passe auch 2025: Essen nährt nicht nur den Körper, sondern kommuniziert Liebe, schenkt Sicherheit, stillt Heimweh und stiftet Identität. Es kann Kulturen verbinden, wie bei der Kartoffel als Symbol der Globalisierung, oder abgrenzen, etwa in exklusiven Fine-Dining-Kreisen.
Das Buch glänzt durch seine Balance aus Wissenschaft und Anekdote. Es vermeidet den erhobenen Zeigefinger, den viele Ernährungsratgeber pflegen, und regt stattdessen zum Nachdenken an. Stärken liegen in der Vielfalt der Perspektiven – von Sterbenden in Hospizen, denen Mahlzeiten Trost spenden, bis zu Food-Aktivisten. Dabei sind die 20 Kapitel eher lose verknüpft, was den roten Faden manchmal etwas strapaziert. Dennoch: In einer Ära der Fast Food und Foodporn auf Social Media erinnert Huwiler-Flamm an die Seele des Essens. Es ist kein Rezeptbuch, sondern eine Hommage an das, was uns menschlich macht – und das mit Geschmack und Tiefgang.
Hinter dem Tellerrand
Sira Huwiler-Flamm
Einbandart kartoniert
Seitenanzahl 240
ISBN 9783987913198
Preis inkl. MwSt.
22 €
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