Vom Auslaufmodell zur Vorzeige-Vinothek

Besuch im Ingelheimer Winzerkeller – mit Weinprobe und Kellergenossen-Ausstellung

Vinothek

Ingelheim hat etwa 30 Weingüter: wie soll man sich da durchprobieren? Wir lernten auf einer Reise eine Möglichkeit kennen, sich innerhalb kürzester Zeit schlau zu machen: den Ingelheimer Winzerkeller. In dem über hundert Jahre alten Gebäude kommt so einiges zusammen, was gut zusammen passt: Tourist-Information, Vinothek (über die gleich mehr zu schreiben sein wird), ein alter Gewölbekeller mit Aha-Effekten, ein Restaurant – Brot und Spiele quasi, oder passender: Wein und Geschichte.

Vinothek innen24 Winzer*innen und einen Edelbrenner sind in der Vinothek vertreten. Zwei Weine von jeder/jedem stehen im Regal und ein weiterer Wein auf der Aktionsfläche – also ist jeder Betrieb mit drei Weinen vertreten. „Ein Querschnitt durch die Qualitätsstufen Guts-, Orts- und Lagenweinen wie auch durch die Rebvielfalt, wobei der Schwerpunkt auf Burgunder liegt“, lobt Kathrin Saaler das nicht ganz unvoreingenommen – sie ist nämlich die Chefin sowohl von der Tourist-Info als auch von der Vinothek. Aber in der Tat ist das Angebot chic, es umfasst zwei VDP-Betriebe genau so wie kleine Familienbetriebe.

 

Weinprobe | Klicken öffnet mehr

Kathrin Saaler

Sekt72 Weine: das könnte den Tagestouristen (m/w/d) eher über- als unterfordern. Wir hatten es da gut: Kathrin Saaler hatte vorgeplant und ausgesucht. Also gab’s zur Begrüßung (fast wie beim Winzer, da geht das ja kaum anders!) einen Sekt – genauer einen Rieslingsekt von Singer-Fischer. Wer den Podcast „Auf ein Glas“ verfolgt, hat von denen schon mal gehört, denn wir hatten im Mai 2021 sozusagen die nächste Generation im Glas, die sich ebenfalls auf Sekt spezialisiert haben: die Sektgeneration Y. Ob’s die noch gibt, wollte ich wissen und erfuhr: jaja – wenn auch mit partieller Pause, wegen Nachwuchs bei der Lena. Da gratulieren wir und heben das Glas mit dem Riesling-Sekt der frisch gebackenen Generation O (wie OmaOpa).

GrauburgunderIngelheim steht ja für Burgunder – also probierten wir drei Varianten und starteten auf Wunsch eines einzelnen STIPvisiteurs mit dem Grauburgunder von Simone Adams. Der sieht aus wie ein Rosé, ist aber ein Orange. Die Traube, erklärt Kathrin Saaler, sei ja violett-gräulich, aber der Saft aus ihr weiß. Wenn man sie aber nicht sofort abpresst, sondern auf der Maische stehen lässt, färbt sich das wunderbar. Simone Adams sagt, dass Weine Zeit brauchen. Sie kitzelt das Terroir heraus – und macht konsequent ihr eigenes Ding (weswegen der naturtrübe Grauburgunder ein Landwein ist, ungeschwefelt und unbehandelt…).

BettenheimerJens Bettenheimer ist Sylvaner-Protagonist und liebt (natürlich!) auch Burgunder. Wir probierten Chardonnay aus dem großen Holz (gelbe Früchte, würziges, ein Hauch von Muskat – und gelbe Früchte). Wir merken eine prägnante Säure im 22er Jahrgang, aber mit klassischem Burgunder-Schmelz. Gute Struktur und Nachhall: für neun Euro sehr viel Wein! Bettenheimer lagert einige Weine auch im Granitfass („die klaut keiner!“) – die machen den Wein schon salziger…

KarlsweinUnd dann gibt’s den Karlswein: Karl dem Großen gewidmet, ein Spätburgunder, bei dem neun Weingüter Spätburgunder aus historischen Ingelheimer Lagen gemeinsam keltern. Immer wieder spannend, wie bei derlei Projekten die Winzer*innen zusammen finden – in diesem Fall von Simone Adams und Jens Bettenheimer über Arndt Werner, Weingut Mett & Weidenbach, Weingut Hamm und Wasem zu Gräff-Schmitt, Menk und Saalwächter. Im Glas der 2018er Jahrgang – ein heißes und trockenes Jahr. Der Wein hat Power, zeichnet schöne Kirchenfenster auf dem Glas – oder sollte man beim Spätburgunder lieber von Kirschenfenstern reden, um ein wenig vom Geschmack vorweg zu nehmen? Kein Wein für nur zum so trinken im Sommer. Aber wenn es Herbst oder Winter wird…

Geschichte des Kellers | Klicken öffnet mehr

Keller

Friedrich HesselsWie eingangs erwähnt: der Winzerkeller pflegt nicht nur (oben) die Winzer, sondern hat auch (unten, wo sonst?) einen Keller. Den schaun wir uns an mit Friedrich Hessel. Er ist Oberingelheimer von Geburt und nach einem Arbeitsleben als promovierter Chemiker andernorts wieder zurück als Kultur- und Weinbotschafter. Das sind knapp 100 Erlebnismacher mit Spezialwissen und Leidenschaft. „Ich mach’s, weil es mir Spaß macht“, sagt Hessel, der als Schüler in der Winzergenossenschaft gejobt hat und dessen Bruder der letzte Vorsitzende der Winzergenossenschaft war. Da kennt er Details und verrät sie, ohne jemand zu verraten: „Die Genossenschaft war ein Auslaufmodell“, erfahren wir. Warum? Weil 2004 nur noch vier Winzer ihre Trauben ablieferten, die Genossenschaft lohnte sich einfach nicht mehr.

Ausgerechnet 2004! Da feierte man das 100jährige Kellerjubiläum – mit Blick zurück ganz ohne Zorn. Denn weil die Weinhändler im Jahr 1900 nur „ganz miese Preise für die Trauben zahlten“ (O-Ton Hessel), entstand „uff de Kerb“ die Idee zur Winzergenossenschaft Niederingelheim. Gehabt hat sie: der Lehrer, wie so oft, wenn es nicht der Pfarrer war… Von der Idee bis zur Realisierung ging alles sehr schnell: 1904 im Frühjahr begann der Bau des Kellers, im Herbst wurde die Lese dort schon gekeltert. Von anfänglich 60 wuchs die Genossenschaft schnell auf über 100 Mitglieder an – und alle packten an. Was für ein Gewusel auf der Baustelle!

Nach vielen Aufs und Abs im Laufe der Jahrzehnte gab es in den 60er/70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts strukturelle Veränderungen: „Wer da Winzer sein wollte, hat sich eher selbstständig gemacht!“, erzählt Hessel. Bis dahin war es ja noch so, dass man „von allem ein bisschen was“ hatte: ein bisschen Wein, ein bisschen Erdbeeren, ein bisschen Spargel. Aber nun wollten vor allem die Jungen es lieber in Vollzeit und nicht halbherzig machen. Oder alternativ auch gar nicht: sie ergriffen andere, für sie lohnendere Berufe – wodurch für die anderen Rebflächen frei wurden.

Als die Genossenschaft sich von ihrer ursprünglichen Idee verabschiedete, blieb allerdings eine Idee: das Gebäude sollte dem Wein erhalten bleiben. Aber vom 100jährige Kellerjubiläum mit dem shutdown bis zur Wiedereröffnung als neues Projekt vergingen 15 Jahre: erst 2019 wurde das neue Projekt realisiert.

Kellergenossen | Klicken öffnet mehr

Keller

Im Keller sehen wir die Ausstellung Kellergenossen – und jede Menge Holzfässer mit Motiven auf dem Fassboden: vom Ahnenfass und Jubiläumsfass des Herrn Niedecken bis zu jährlichen Motiven zwischen 1959 bis 1983, in denen drei Schnitzer die Fassböden schnitzten mit kürzestmöglichen Jahresbewertungen, Winzerweisheiten oder anderen fassbodengeeigneten Dingen, die vor allem eins können mussten: sich reimen: „21.7.1969 landen Menschen erstmals auf dem Mond, sie kehren aber bald zurück, denn gewachsen ist ein gutes Kirchenstück.“ Nun ja. Das Kirchenstück ist die Topp-Lage in Ingelheim, je nach Quelle nur 3 oder 3,5 oder 4 ha groß. Über Generationen gehörte es der Winzerfamilie Niedecken, von denen auch all die Fässer im Keller stammen. Doch da es keinen Winzernachwuchs mehr gab, ist das Kirchenstück mittlerweile an das Weingut K & K Dautermann verpachtet – wer den Geschmack dieses Terroirs probieren will, ist dort also bestens aufgehoben…

Der Ingelheimer Winzerkeller wurde von den Great Wine Capitals gleich zweifach mit dem „Best of Wine Tourism Award“ ausgezeichnet. 2020 erhielt er ihn in der Kategorie „Architektur, Gärten & Parks“, 2023 in der Kategorie „Kunst & Kultur“. Das Deutsche Weininstitut (DWI) zeichnete die Ingelheimer Vinothek im September 2021 als hervorragende Vinothek aus.

Ingelheimer Winzerkeller
Binger Str. 16
55218 Ingelheim am Rhein

Tel. +49 6132 65 99 132 (Vinothek)
ingelheimer-winzerkeller.de

[Besucht am 24. und 25. August 2023 | Alle Beiträge Rheinhessen] .

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Hinweis:
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden unterstützt mit einer Pressereise auf Einladung der Great Wine Capital Mainz.

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