Alles drin vom Kamm bis zum Ständer

Carsten Ullrich – Alte Schule Landwirtschaft – mit Hahn zu Gast im Speisewerk

Hahn mit Züchter

Man redet ja gerne mal aneinander vorbei – aber selten so amüsant und unbeabsichtigt wie neulich. „Wollen Sie mal an den Ständer fassen?“, fragt Carsten Ullrich den Gast am Ende des Tisches – und dessen Frau gegenüber guckt erstaunt aus der Wäsche. Carsten Ullrich, der Mann, der schon immer Landwirt sein wollte, bemerkt’s und schaut verwundert in die Runde der Gäste im Speisewerk. Eigentlich war die Frage doch ganz eindeutig, zumal er ja nicht mit leeren Händen gekommen war: in seinem rechten Arm trug er einen Hahn, und dessen Beine und Füße nennt der Fachmann eben Ständer. Steht auch in der Wikipedia, rechtzeitig vor anderen Erklärungen.

Ein Hahn auf dem Arm? In einem Restaurant? Ist das nicht… – nein, ist es nicht. Der Carsten von der Alte Schule Landwirtschaft ist nämlich einer, der es seinem Federvieh gut gehen lässt. Oder, um einmal Sam Sifton, den Gründer der immer wieder anregenden NewYorkTimesCooking, zu zitieren: „Ich gehe zu dem Bauernhof, der die Vögel aufzieht, die ich jedes Jahr koche. Tiere, die nur einen schlechten Tag in ihrem Leben hatten.“ Der Hahn, erfuhren wir, ist der Show-Hahn. Er wird immer wieder mal mitgenommen, um der meist unwissenden Stadtbevölkerung so selbstverständliche Dinge beizubringen wie die Sache mit dem Ständer. Oder dem Kamm, der auch ganz ohne Friseurlehre irgendwie zum Hahn gehört – und sogar schmeckt.

Womit wir nahe dran sind am Abend rund um das Geflügel im Speisewerk. „Wir sind ein Tagesbistro mit einfacher, moderner, frischer Küche“, steht in der Selbstbeschreibung – aber eigentlich sollte das Chicken Dinner ein Schritt voraus in ein neues Konzept sein, erklärt Stephan Hentschel, der Chef. Unter anderem mit Öffnungszeiten an den Abenden des Wochenendes. Doch genau an diesem Hühner-Abend kam dann der erneute faktische Lockdown für die Abendgastronomie in Sachsen: sie muss erst einmal um 20 Uhr schließen. Nun nicht gut.

Es gab an diesem Abend ein 4-Gang-Menü, bei dem „die Verwertung von Nose to Tail im Vordergrund“ stehen sollte. Wir wissen ja nun, dass es bei Federvieh von Kamm zu Ständer heißen muss, weil Nase und Schwanz nicht das Maß aller Dinge sind. Aber das sind ja eh alles nur Worthülsen im Vergleich zur Grundidee, die das Leben des Landwirts schwer, das des Federviehs leichter und das des Gastronomen und seiner Kundschaft komplizierter macht: derlei aufgezogenes Getier muss einfach mehr kosten als die gängige Discounter-Ware. Machen die Kunden das mit? An Abenden wie diesem ja (60 € kostete das Menü, Getränke extra). Aber nachhaltiges Arbeiten und Respekt gegenüber den Tiere könnte ja auch bedeuten: nicht immer, nicht immer viel – aber wenn, dann ordentlich. Und dann ist es auch im Genuss-Preis-Gewissen-Dreieck darstellbar.

Chicken im SpeisewerkLos ging’s (nach obligatem Brot mit Aufstrich und Gruß aus der Küche) mit einer Speisewerk Leberwurscht Stulle | Quitte | Kaper. Das mit der Leberwurscht ist ja einerseits geschmacklich immer eine schamlose Untertreibung und andererseits auf der ethisch-philospophischen Ebene immer eine Diskussion wert. Um auf der bewertenden Geschmacksebene zu bleiben: Klasse. Leider ist man im Speisewerk in Sachen Weinkultur noch eher im Tal als auf der Höhe (es gab Weine nur eines Weinguts, die zwar nicht schlecht waren, aber eben keineswegs fein aufs Menü abgestimmt) – aber was nicht ist, kann und sollte noch werden. One wine fits all ist eben nicht die wirkliche Offenbarung.

Den zweiten Gang nur Suppe zu nennen, wäre dem Aufwand nicht gerecht gewesen: Geflügeltee | Brust aus dem Rauch | Pfeffer-Backerbsen | Zitrone liest sich zwar schon komplexer, macht aber immer noch nicht klar, worin das Geheimnis besteht: Zeit! Viel Material zum Einkochen! Noch mehr Zeit! Alles, was Tee heißt und in Wirklichkeit keiner ist, sollte diese tagelange Reduktion hinter sich haben. In der Suppe lag ein Fuß (pardon: Ständer) – weniger zum Essen/Abnagen denn als Referenz an das, was da den Geschmack ans Wasser im Laufe der Woche abgegeben hat. Und es gab erstmals Kostproben vom Kamm. Aber bei den Gästen keinerlei Erschröcknisse, weder beim Anblick des Einen noch beim Genießen des Anderen.

Zum Hauptgang hätte es ja endlich Brust geben können, dachte ich mir als bekennender Liebhaber eben jener – aber die war nicht erkennbar, sondern Teil von Gefüllte Keule | gebackener Kamm | Rote Bete Saft | Steckrübe | Grünkohl | Kartoffel-Majoran-Gnocchi. Das klingt nach viel, ist es auch. Die Brust befand sich als Farce in der Keule, die ausgelöst und zur Roulade gerollt war. An die drei winterlichen Gemüse in trauter Dreisamkeit musste (aber konnte) man sich gewöhnen, wobei dem grünkohlaffinen Ostfriesen ein weniger wäre mehr in den Sinn kam: ohne den (modisch kurz gegarten und nicht wirklich leicht kaubaren) Grünkohl wäre der Gang für mich runder gewesen.

Versöhnung beim Dessert, wer kennt das nicht? Zweierlei Apfel | Tonkabohne, ganz ohne Huhn, aber dennoch gut. Und Nachdenklichkeit nach dem Dessert. Denn mit dem neuerlichen Lockdown der Abendgastro fallen Carsten Ullrich vor allem in der gehobenen Gastronomie, die er bedient, die Abnehmer weg. Aber: jeden ersten Sonntag im Monat gebe es einen Hofrundgang, im Dezember vielleicht auch jede Woche (je nachdem, was aktuelle Verhältnisse und Verordnungen so erlauben). „Solltet ihr zu Weihnachten noch ein Hühnchen oder eine Ente haben wollen – wir schlachten ab dem 19. 12. durch“, sagte Carsten Ullrich. Und Dank der Stornierungen gebe es „erhebliche Quantitäten“…

Speisewerk
Bautzner Straße 71
01099 Dresden

Tel. +49 351/33948925
www.speisewerk.com

[Besucht am 19. November 2021 | Übersicht der hier besprochenen Restaurants in Dresden und Umgebung]

Alte Schule Landwirtschaft
Waltersdorfer Straße 20 b
01825 Liebstadt

Tel. +49 152 26575868
www.alteschule-landwirtschaft.de

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