Von Höhlen und Dolinen

Küstenwanderung mit ausgiebigem Mittag von Carvoeiro nach Benagil

A Boneca

Das Schild unten am Strand von Carvoeiro warnt in großen Lettern vor Steinschlag: die Klippen könnten sich selbstständig machen und in mehr oder minder großen Brocken herunterfallen, was für diejenigen, die dort unten stehen, durchaus tödlich sein könnte. So steht’s zumindest im erklärenden Kleingedruckten – das man allerdings nur lesen kann, wenn man nahe genug ran geht ans Schild und somit – zack! – in der Gefahrenzone steht. Wir hatten Glück, es passierte an diesem Tag nichts dergleichen, was uns den großen Vorteil des Weiterlebens und bei der bevorstehenden Wanderung über Algar Seco nach Benagil oben auf eben jenen Klippen reichlich gute Aussichten schenkte.

HolzstegDie ersten 600 Meter der insgesamt achteinhalb Kilometer bis zum Ziel der Tour in Benagil kann man auf einem komfortablen Holzsteg zurücklegen. Derlei Stege ziehen sich über weite Teile der Küstenlinie der Algarve – unter den Stegen wird Dünenlandschaft geschont, machmal ist es auch sumpfiges Gelände – sehr praktisch, da drüber laufen zu können.  Der Steg ist hier als Naturlehrpfad ausgewiesen und hat einen Namen: Algar Seco. Das ist die Bezeichnung für die bemerkenswerten Kalksteinfelsen, denen Wind und Wetter vorbehaltlos Erosion haben angedeihen lassen. Algar, lernen wir auf einer der vielen Info-Tafeln, kommt entweder vom arabischen Wort Algar, was „die Höhle“ bedeutet. Oder es ist phönizischen Ursprungs, wo Algar „Abgrund“ bedeutet. So oder so: es passt, denn die Vielfalt der durch Erosion erzeugten Formen umfasst sowohl Höhlen als auch schwindelerregende Abgründe. Die spannendsten von denen sind durch Zäune geschützte Dolinen: natürlichen Brunnen oder Sinklöcher, die bis zum Meeresspiegel reichen (am Strand von Prainha hatten wir mal die Chance, von unten durch so eine Doline in den Himmel zu schauen).

Blick gen WestenDie bequemen 600 Meter sind eine elendig weite Strecke, zumindest was den Zeitaufwand anbelangt. Alle Naselang muss man stehen bleiben, um sich irgendwas anzuschauen. Infotafeln machen auf Portugiesisch und Englisch schlau über alles, was da kreucht und fleucht. Holzbänke wie Tribünen laden zum Sitzen ein und dazu, Studien über den Horizont zu betreiben. Der Blick zurück gen Westen reicht (auch das steht auf einer Tafel) von Carvoeiro über den Torre da Lapo und die Baia de Lagos und die Ponta da Piedade bis ans Ende der Algarve nach Sagres. Fast war mir so, als ob ich da im Dunst jemand mit einer Bratwurst habe winken sehen 😉

Miradouro da falésiaNoch mehr Zeit kostet der Abstecher zum Miradouro da falésia do Carvoeiro. Da sehen die Felsen aus wie Schweizer Käse: voller Löcher. Der Weg runter (und wer mag, wieder hoch auf einen freistehenden Felsen) ist ein absolutes Muss, es gibt Abzweige zu Höhlen (Taschenlampe nicht nötig, es kommt meist schnell ein Ausgang auf der anderen Seite), dadurch ergeben sich immer wieder neue Perspektiven. Der Kalkstein gibt sich in allen Schattierungen von gelb über ocker bis rot die Ehre, was mit dem Meer (türkis, aber was für eins!) und dem Himmel (meist blau) erstaunlich knapp am allerfeinsten Kitsch vorbei schrammt.

Geburt einer DolineWie die Löcher in den Käse kommen, hat ja Kurt Tucholsky erörtert. Aber wie kommen sie in die Felsküste an der Algarve? Ganz einfach, denn die Klippen dieses Küstenabschnitts bestehen aus kohlensäurehaltigem Gestein. Und was Wasser (von oben: Regen, von der Seite: Meer) mit diesem Kalkstein macht, versteht man nach nur wenigen Semestern Chemie wie von selbst. Mit einer gehörigen Portion Leichtigkeit kann man sagen: das Wasser spült sich in den Felsen, es entsteht ein kleiner Riss. Darin fühlt sich Wasser wohl – dabei vergrößert sich der Riss. Und Zack: schon nach wenigen hunderten von Jahren sehen die wunderbaren Felsen aus wie schweizer Käse. Oder, wie eine Tafel am Wegesrand sinngemäß informiert: Diese Gesteine wurden durch langsame Ablagerung von marinen Sedimenten in Millionen von Jahren gebildet. Sie sind anfällig für Wasserkontakt und können daher leicht geschnitzt werden. (Wikipedia weiß, wie so oft, mehr.)

Erosion bei der Arbeit Restaurante Boneca Bar A BonecaAm Ende des Holzstegs tut sich ein weiteres Highlight auf, denn wieder geht es runter. Wir haben, zur Erinnerung, schon 600 Meter des Wegs hinter uns gebracht und sind somit sehr froh, unten in den Klippen sechs große Sonnensegel zu entdecken. Sie gehören zur Boneca Bar, die auch ein Restaurante ist und – große Freude – von 12 bis 20 Uhr geöffnet hat. Selbstverständlich sollte dieser überraschende Zwischenstopp genutzt werden – aber nicht ohne vorher den Treppen nach links zum Natur-Gucken zu folgen. Von einer kleinen Terrasse aus sieht man sehr schön, wie die Erosion so spielt: Wasser klatscht an den Fels, es schäumt, es zieht sich zurück und kommt erneut angewellt. Neue Höhlen konnten wir während unseres Aufenthalts nicht entdecken, aber die vorhandenen Löcher zu interpretieren (erkenne die Gesichter!) macht auch Spaß.

Das Restaurant gehört zu den wirklich guten – wie wir überhaupt überrascht waren, auch an den größten Ausflugsstellen immer wieder Restaurants mit hohem Anspruch zu entdecken. Es gab, natürlich, Fisch. Und Vinho Verde. Aber das ist eine andere Geschichte. Gleich hinterm Restaurant geht es wenige Schritte weiter zur namengebenden Stelle La Boneca mit den Ojos de Boneca, den Puppenaugen. Das sind zwei Löcher wie Augen im Felsen – und wir stehen in eben diesem Felsen wie in einem Wintergarten und schauen raus aufs Meer, das sich uns leicht schäumend und ansonsten türkis in seiner ganzen Pracht zeigt.

Der Percurso Pelo Litoral (der Küstenweg) ist ab jetzt nicht mehr so komfortabel, sondern eher naturnah und manchmal als Weg auch nicht genau auszumachen. Aber selbst da, wo das Gelände wegelos ist, kann man sich nicht großräumig verlaufen und findet notfalls über kleine Pfade zurück zum richtigen Weg. Die Hauptrichtung ist ja einfach: immer gen Osten, dabei das Wasser stets rechter Hand lassen… Ein Schild verrät das nächste Ziel in 3 km Entfernung: Farol de Alfanzina, den Leuchtturm von Alfanzina.

selfieLinks des Weges – also landeinwärts – ist das Land dicht besiedelt. Manchmal reichen die Häuser bis an den Weg ran, aber sie stören nicht großartig. Wenn’s einem dann doch zu heftig wird (was auch ein, zweimal vorkommt), kann man ja nach rechts schauen und hat gleich wieder die nächste Bucht mit der nächsten Höhle und das Meer mit der sich langsam sinkenden Sonne im Blick. Oder, völlig unerwartet und beinahe ein wenig surreal, eine Bistrogarnitur: ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Festgenagelt auf der Klippe! Ein Hotel (nicht der hässliche Betonklotz, der sich als nächstes zeigt!) hat Tisch und Stühle dort aufgestellt. Wer hier kein Selfie macht, hat was verpasst!

Leuchtturm von AlfanzinaIrgendwann taucht dann erstmals der Leuchtturm hinter einer Biegung der Küste auf. Wenn sie schon für Küstenspaziergänger so spannend zu sehen sind – wie denn dann erst für Seefahrer! Vor allem für die, die noch ohne GPS und anderen modernen Schnickschnack auskommen mussten! Der Leuchtturm von Alfanzina wurde 1883 projektiert, aber erst 1919 erbaut. Aber es dauerte noch Jahrzehnte, bis der Leuchtturm mit Strom versorgt werden konnte. Es war auch schwierig, einen Zugangspfad zum Turm zu bauen. Alfanzina war wohl so etwas wie der Arsch der Welt – aber immerhin einer, der von der Spitze des 15 Meter hohen Turms aus zwei Lichtblitze mit Intervallen von 3,6 und 11 Sekunden ausstrahlte, die für 29 Meilen sichtbar sind. Von See aus gute Zeichen!

DolineIn unmittelbarer Nähe finden wir, von einem Zaun umgeben und somit uneinsichtig, yet another sinkhole – eine Doline. Und den Hinweis auf einer Infotafel, dass unser nächste größeres Ziel Benagil sei – noch 3,1 km bis dahin. So, wie es sich anlässt, bleibt der Weg schön: Bäume trauen sich jetzt bis an den Klippenrand heran, die Buchten aber bieten strukturell den gewohnten Mix aus rotbuntem Felsen, türkisfarbigem Meer und Höhlen, in denen die Gischt weiter an der Zerklüftung der Küstenlinie arbeitet. Hin und wieder sehen wir ein Wanderzeichen, rot-gelbe Striche. Aber an den spannenden Stellen, wo man vielleicht besser abbiegen statt weiter gehen sollte, können die auch schon mal fehlen. Langweilig wird’s also nicht, aber das liegt auch (bei unserem Tempo…) am immer spannender werdenden Licht.

Licht-StimmungDer Tag ist nämlich mittlerweile in die Stunden gekommen. Im November deutet sich der Sonnenuntergang schon früh an, auch an der Algarve fehlt der Sonne am Ende des Tages die Kraft. Für Fotografen ergeben sich dadurch schöne Gegenlicht-Momente, als Wanderer ergibt sich die Frage: wenn das so weitergeht mit den vielen Fotostopps – schaffen wir es bis Sonnenuntergang (Spoiler: ja)? Andererseits verweilen wir dann doch deutlich weniger lang an spannenden Punkten wie der Halbinsel Cabo Carvoeiro – man muss das Schicksal ja nicht mehr als nötig herausfordern. An der Praia do Carvalho hatte die Sonne dann schon genug Tiefgang, um die Stimmung auf den Bildern zu röten. Da durfte es sogar ein kleiner Umweg sein, um die Landschaft besser inszenieren zu können.

PS: Der Wanderführer empfahl, den Weg zurück zu gehen. Wir ließen uns, angesichts untergehender Sonne, zurück ubern…

PS2: Dies ist ein Text zum Januar-Blatt des Kalenders 2021. Eine Übersicht über alle Kalenderblätter, die Möglichkeit eines PDF-Downloads und alle Orte auf der Karte gibt’s hier!

 

2 Kommentare

  1. Was für für ein toller Text! Danke dafür!
    Sind heute einen Teil des Wegs gelaufen, aber ich habe danach deinen Bericht laut meiner Frau vorgelesen. Sehr cool! Wunderschön geschrieben.

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  1. Boneca Bar: Das Restaurant bei den Puppenaugen | STIPvisiten

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