Bei der Lektüre eines Kochbuchs stieß ich auf einen Satz, der mich stutzen ließ: Professor Massimo Montanari, Historiker für europäische Ernährungsgeschichte, beschreibt in seinem erhellenden Buch »Spaghetti al pomodoro«, wie auf Sizilien bereits damals Makkaroni industriell hergestellt und als trockene Pasta verkauft wurden“, las ich bei Claudio Del Principe – und weil dieses damals durch den Satz zuvor aufs 12. Jahrhundert datiert war, dachte ich: oops?! 12. Jahrhundert und industriell – wie das? Da hilft also nichts außer: Buch besorgen, selber nachlesen. Und nun liegt also der schmale Band (11 cm) mit den wenigen Seiten (144) vor mir – und macht Spaß! Ein Wissenschaftler, der erwartungsgemäß sachkundig und (trotz 158 Fußnoten!) unverhofft locker-lesbar zugleich schreibt – da hätte man doch gerne mehr von.
Massimo Montanari hat’s natürlich mit seinem Fachgebiet (eigentlich besser: seinen Fachgebieten) auch gut getroffen. Bis 2019 war er ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte an der Fakultät für Literatur und Kulturerbe der Universität Bologna, wo er auch Lebensmittelgeschichte lehrt und den europäischen Master „Geschichte und Kultur des Essens“ leitet. Er lehrt außerdem an der Universität für Gastronomiewissenschaften von Pollenzo. [Quelle] So einer darf sich auch ganz banalen Spaghetti widmen und sich an ihnen geisteswissenschaftlich abarbeiten. Auf den ersten Seiten liest sich das manchmal für Ungeduldige etwas theoretisch und trocken, aber so wie bei Pasta kommt ja bald was hinzu. Außerdem sind das ja keine banalen Gedanken – und wenn man fast am Ende des Buches angelangt ist, kann es sein, dass man noch mal zurückblättert, um dann doch aufmerksamer zu lesen (und ja: man=ich…).
Ab Seite 21 sind wir dann allerdings mittendrin im praktischen Leben. Es gibt Nudeln mit Tomatensoße und Käse, aber natürlich in der italienischen Variante Spaghetti al pomodoro – möglichst mit geriebenem Parmesan als das identitätsstiftende Merkmal der italienischen Landesküche schlechthin. Und il professore beginnt seine Jagd nach den wesentlichen Bestandteilen: „ich werde also eine Art historische Dekonstruktion des Gerichts vorschlagen und es aufspalten in die Zutaten, aus denen es besteht, die Techniken, mit denen selbige zubereitet, zusammengefügt, verwandelt werden„. Unwillkürlich frage ich mich, ob’s so was Schlaues auch über Bratkartoffeln mit Spiegeleiern (inklusive einem Spezialkapitel zum Thema Bratkartoffelverhältnis) gibt – aber das würde ja jetzt nur ablenken.
Und Ablenkung kann man jetzt nicht brauchen, denn Massimo Montanari rollt einen Krimi aus, in dem viele übliche Verdächtige schnell ausscheiden: Marco Polo? Hat selbst nie behauptet, die Nudeln aus China mitgebracht zu haben. Das haben andere für ihn erledigt, angeblich sogar ein Venezianer namens Spaghetti. Aber: alles bullshit, denn „es waren Araber, die sie flächendeckend in den von ihnen besetzten Gebieten verbreiteten: Maghreb, Sizilien, Andalusien. Ihrer Mittlerrolle ist es zu verdanken, dass parallel zu der griechischen und römischen Tradition der frischen Nudeln (ihrerseits wahrscheinlich ein Erbe noch älterer Typen aus dem Nahen Osten) die Verwendung von getrockneter Pasta eingeführt wurde.“
Und schon sind wir mit den Arabern in Sizilien, die dort seit dem 9. Jahrhundert mehr als zweihundert Jahre herrschten und tiefe Spuren arabischer Kultur hinterließen. „Somit kann es kein Zufall sein, dass gerade hier Mitte des 12. Jahrhunderts ein außerordentliches Dokument die Existenz einer veritablen Industrie für getrocknete Nudeln nachweist: die erste in der Geschichte. Wohlgemerkt eine Industrie, die den Herstellungszyklus in allen seinen Phasen steuert, von der Ernte bis zum Mahlen des Getreides, von der Herstellung der Nudeln bis zu ihrem Weg in den Handel“, schreibt Montanari und beruft sich dabei auf den Geographen Al-Idrisi, der wohl eine zuverlässige Quelle ist. Als Reisender beschreibt er Städte und Regionen des gesamten Mittelmeerraums. Montanari erzählt: „Als er auf Trabia zu sprechen kommt – einen Ort nahe Palermo –, erwähnt er »ewig fließende Wasser, die viele Mühlen antreiben« und ausgedehnte Landgüter, »in denen man reichlich Nudeln [itriyya] produziert und überallhin exportiert, speziell nach Kalabrien [also in den Süden Italiens] und in andere islamische und christliche Länder«; und »sehr viele Ladungen werden übers Meer geschickt«. Dies ist die einzige Passage im Werk, wo von itriyya die Rede ist, von getrockneten Bandnudeln. Die von al-Idrisi beschriebenen sizilianischen Fabriken müssen bedeutend gewesen sein, mit Sicherheit waren sie sehr fortschrittlich.“ (Seite 38)
Damit wäre ja die wichtigste Frage geklärt, oder? Kein Flüchtigkeitsfehler, pasta secca sind schon laaange das Product industrieller Fertigung. Aber es liest soich munter weiter, und nach den Nudeln kommt – Überraschung: nicht die Tomate dran, sondern das Wasser. Denn wer sagt denn, dass man Pasta kochen muss? Eben. Und salzen. Und andere trockene Zutaten hinzufügen sollte – was den Käse ins Spiel bringt. Das liest sich alles ganz flott weg, und dümmer wird man durch diese Unterhaltung auch nicht. „Der Käse auf den Maccheroni wurde umgehend sprichwörtlich, während Maccheroni ohne Käse (maccaron sanza cascio) zur Metapher der Imperfektion wurden, wie etwa bereits im 16. Jahrhundert bei Pietro Aretino, der sie in einem Atemzug mit ähnlich tragischen Mängeln nennt wie einer Küche ohne Koch (»cocina senza cuoco«) oder Essen ohne Trinken (»mangiar senza bere«).“ Essen ohne Trinken als einen tragischen Mangel zu bezeichnen – das hat doch was!
Pasta und Wasser und kochen – da fehlt doch noch was? Na klar: al dente soll’s Ergebnis sein! Die Geschichte lehrt freilich, dass das nicht immer so war, denn früher® ließ man sie schon mal zwei Stunden köcheln. Schön weich also. Aber erst durch „die Emanzipation der Pasta“ von der Beilage zum Hauptdarsteller wurde es wohl wichtig, sie zu kauen und zu schmecken. Und bis zum Einzug der Tomate im 17. Jahrhundert waren die Spaghetti/Maccheroni natürlich auch nicht rot, sondern weiß (Öl oder Butter plus Käse als Sauce). Und selbst die ersten Tomatensaucen waren nicht für die Pasta, sondern fürs Fleisch gemacht obwohl sich die Anweisungen schon sehr gut anhören (Seite 87, wer mehr wissen will als Tomate, Zwiebel, Peperoncino und Thymian). Später gibt’s dann noch Infos zu weiteren Sugo-Verdächtigen wie Zwiebeln und Knoblauch – und selbst die unglaubliche Geschichte der Spaghetti-Baüme und der („Dank des erfreulichen Verschwindens des Spaghettirüsselkäfers“) guten Ernte fesselt den Leser (der sehr gerne auch eine Leserin sein darf, oder so).
Und schwupps ist das Bändchen durchgeschmökert! Aber es gibt ja noch eine zusammenfassende, weit über die Nudel herausgehende Schlußbemerkung, die des Nachdenkens und ggf. nochmals Nachlesens lohnt. Wer will, mag da sogar eine Wahlempfehlung rauslesen: „Diese kleine große Geschichte hat uns gezeigt – in der sinnlichen Konkretheit eines Tellers Spaghetti –, dass Identität nicht gleichbedeutend ist mit Wurzeln. Identität ist, was wir sind. Die Wurzeln hingegen sind nicht ›das, was wir waren‹, sondern die Begegnungen, der Austausch, die Schnittpunkte, die das, was wir waren, verwandelt haben in das, was wir sind. Und je tiefer wir in der Suche nach den Ursprüngen vordringen, desto mehr breiten sich die Wurzeln aus und entfernen sich von uns – ganz so, wie es bei den Pflanzen geschieht. Wenn wir die Metapher voll ausschöpfen, werden wir feststellen, dass die Wurzeln häufig die anderen sind.“ (S. 118/119)
Spaghetti al pomodoro –
Kurze Geschichte eines Mythos
Massimo Montanari (übersetzt von Victoria Lorini)
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Mit vielen Abbildungen
Veröffentlicht (dt.) 20.8.2020
ISBN 978-3-8031-1354-2
22,– €
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