Der Kritiker und die Dokumentation des Geschmacks

Jürgen Dollase erstellt mit der SLUB und der TU Dresden ein kulinarisches Gedächtnis der Gegenwart

Jürgen Dollase

Wichtige Nachricht an alle Köche in Dresden und Umgebung, egal welchen Geschlechts: Ihr habt was verpasst. Also alle bis auf zwei, denn die waren da bei einer weit über die Region strahlenden Veranstaltung in der SLUB, wie die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden erfrischend kurz abgekürzt wird. Versammelt waren dort nämlich – neben der einschlägigen heimischen Wissenschaft und anderen Gästen – Deutschlands wohl bekanntester Gastro-Kritiker Jürgen Dollase und fünf bundesweit bekannte Spitzenköche. Dass sie sich dort trafen, war natürlich kein Zufall: Vor gut einem Jahr entstand am gleichen Ort das „Deutsche Archiv der Kulinarik“ – und das bekam nun Zuwachs. Einerseits ist das Archiv kräftig gewachsen, weil die Sammlung von Eckart Witzigmann hinzugekommen ist, andererseits hat Dollase zusammen mit der SLUB und der TU Dresden eine in dieser Art weltweit einzigartige Geschmacksdokumentation aus der Spitze der Kochkunst gestartet.

Jürgen DollaseDie ersten fünf Ergebnisse wurden nun im Rahmen der Veranstaltung überreicht – in Form von fünf schwarzen Boxen, in denen vielleicht auch schon die Texte und Bilder waren, vielleicht aber auch nur Luft – wer weiß: sie blieben verschlossen. Das Format der Veranstaltung sah wenig Bilder vom Ergebnis des Tuns vor, sondern vornehmlich das gesprochene Wort – was natürlich ganz gut zu Dollase passt. „Als Gastronomiekritiker ist Dollase bekannt für sehr präzise Beschreibungen der Gerichte, auch kritische Anmerkungen sind stets sachlich. Das ist viel wert in einem Genre, das bis heute stark von persönlichen Befindlichkeiten und reinen Meinungsäußerungen geprägt ist“, entnehme ich im Abschnitt Kritik zu Dollase der Wikipedia.

Langfristig sollen die Geschmacksdokumentationen digitalisiert und damit der Öffentlichkeit zugängig gemacht werden, versprach die Generaldirektorin der SLUB, Katrin Stump. Sie war übrigens, neben der Rektorin der TU Dresden, Prof. Dr. Ursula Staudinger, beim abschließenden Gruppenbild die einzige Frau auf der Bühne, das ansonsten von (und das schreibt einer, der auch zu der nun genannten Gruppe gehört) hauptsächlich alten weißen Männern geprägt wurde – die wenigen nicht so alten und noch nicht weißen Männer mögen den Rundumschlag vermeiden.

Das ist in vielerlei Hinsicht schade, denn wie schön wäre es gewesen, auch eine Köchin auf der Bühne zu sehen, vielleicht sogar eine junge. Oder einen jungen Koch (einer dieser Spezies saß im Publikum und kocht sonst am Rand der Heide in Dresden…) bei seiner Arbeit genau so akribisch zu begleiten, wie Dollase seine Herangehensweise in der im übrigen sehr unterhaltsamen One-Man-Show mit Gästen beschrieben hat. Oder gar, um den großen Kritiker selbst zu zitieren, vielleicht mal jemand weitgehend Unbekannten bitten: „Es geht um hervorragendes in ganz verschiedenen Bereichen der Kochkunst. Es geht um ganz verschiedene Küchen. Wenn man von dem kulinarischen Werk redet oder von kulinarischer Exzellenz, ist man in gewisser Weise auf einer neutralen Ebene. Was Exzellenz ist, spielt sich nicht nur in Michelin-Sternen und Michelin-Sterne-Restaurants ab, sondern auch da, wo man vor einem Gericht sitzt und sagt: geht es besser? Nein, es geht nicht besser! Es kann Kaspressknödel für sieben Euro neunzig zwei Stück in Österreich geben und man sagt: Es ist sensationell. Man kann es anders machen, aber nicht besser!“ Excellenz, meint Dollase, könne auch unter ganz unterschiedlichen funktionalen Zusammenhängen entstehen. „So gesehen ist auch die Küche schon zu Hause unter Umständen ein Objekt für Exzellenz.“ Das wäre doch mal spannend, bei Tante Käthe zu spinxen, die für ihre sensationelle Hausmannskost berühmt ist in der ganzen Familie!

Aber vorerst geht Dollase lieber sehr gut bis sehr sehr gut essen und dokumentiert das. Wie weit sich der Kritiker mit so einer dienenden Arbeit mit den Objekten (sorry, aber Subjekten klingt auch nicht viel besser) seiner Kritik gemein macht, ist ein eigenes Kapitel – auf der Bühne siezte Dollase alle Gäste. Ob er es auch am Abend beim gemeinsamen Schmaus tat? Wie auch immer, Dollase hat sich eine Liste erarbeitet, berichtete er. Die geht von der Intention, der Begründung für die Dokumentation aus (warum gerade dieses Gericht?), arbeitet sich am eher Objektiven ab (Vorstellung von Koch und Restaurant) und schließt ein das Gespräch mit dem Protagonisten (Schwerpunkt auf der kulinarischen Sozialisation und das Reden über alle möglichen Details rund um das Rezept). „Diese Gespräche sind im Druck mit der Dokumentation jeweils von einem beträchtlichen Umfang“, erfahren wir.

Weiter geht’s mit Bildern der Herstellung des Gerichts – „Das kennen Sie“, sagt Dollase, „aber ich habe sie detaillierter kommentiert, damit wir dann wirklich auf den Punkt kommen können.“ Auch dieser Teil der Dokumentation umfasse „üblicherweise mehrere Seiten“ und beziehe auch die weiteren Sinne ein. Natürlich gibt es auch „das, was klassischerweise existiert“: ein Rezept. Eher untypisch weiter geht es in der Dokumentation mit Vergleichen und Diskussionen von Beispielen aus Kochbüchern. Das gäbe es im kulinarischen Bereich bisher so quasi überhaupt nicht, sagt Dollase – und man glaubt unbesehen, dass das „eine enorme Aussagekraft“ hat. Der letzte (wer mitgezählt hat: achte) Punkt ist wieder eher erwartbar: eine „zusammenfassende Bewertung und Einordnung. Ebenfalls in der Regel mehrere Seiten lang.“

GruppenbildDas alles, merkt man ja schon beim Zuhören, Schreiben, Lesen, ist ein umfangreiches Unterfangen und kostet Zeit. Und wir wissen ja: time is money. Wieviel money, wissen wir nicht – über konkrete Zahlen redet man nicht gerne in der SLUB, so nach dem Motto: es ist wert, was es wert ist. „Dank der Förderung durch die Christian C.D. Ludwig-Foundation werden damit hochklassige kulinarische Kreationen und zeittypische Gerichte dieser Köche so präzise dokumentiert, dass ihre Zubereitung und gustatorische Wahrnehmung auch von späteren Generationen nachvollziehbar rekonstruiert werden kann“, steht in der Pressemeldung der SLUB, und auf der Bühne zeigten sich beim erwähnten Abschlussbild mit wenig Damen auch bis dato unbenannte Herren, die auf Nachfrage „auch als Sponsoren“ benannt wurden.

SLUB DollaseHier eine Übersicht der fünf anwesenden Köche und ihrer besprochenen und dokumentierten Gerichte (die Verlinkung zu den Dokumentationen in der SLUB sind nachträglich hinzugefügt):

  • Michael Sauter, Fischereihafen Restaurant, Hamburg  – Seezunge „Müllerin Art“
    Dokumentation
  • Claus-Peter Lumpp, Restaurant Bareis ***, Baiersbronn –
    Lamm von der Älbler Wacholderheide
    Dokumentation
  • Oliver Steffinsky, Küchendirektor Bareis, Baiersbronn –
    Gefüllte Kalbsbrust „Badische Art“
    Dokumentation
  • Jan Hartwig, Jan ***, München – kein Einzelgericht, sondern Details und Hintergründe zu 76 Rezepten des Buches „JAN“ (erscheint im Dezember)
    Dokumentation
  • Eric Menchon, Le Moissonier **, Köln – Bretonische Rotbarbe auf Holzkohle gegrillt (plus, wie nicht auf dem Bild steht, aber genannt wurde: Champagner-Fenchel-Sauce und Zitronen-Gel nach Mojito-Art, Couscous-Hirse mit Orangenblütenwasser, Meerrettich-Crème und Bottarga von Meeräsche, Langustinen-Mousse, Sizilianische Caponata, Parmesan-Chip, Polenta und Ricotta, Cidre und Forellenkaviar)
    Dokumentation

Jürgen Dollase interviewte sie einzeln, stellte präzise Fragen und bekam tolle Antworten. Das war der Punkt, an dem alle Köche (m/w/d etc) nicht nur Fachliches hätten lernen können, sondern auch gratis eine fünffache Lektion im komplizierten Fach Persönlichkeit und Demut hätten mitnehmen können. Aber wie heißt es so schön: hätte hätte Fischbulette

Infos: Deutsches Archiv der Kulinarik

 

 

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